Die alpine Küche besinnt sich zurück auf ihre kulinarischen Wurzeln – althergebrachte Techniken leben wieder auf, und überlieferte Rezepte werden neu interpretiert. Im Salzburger Land in Zell am See-Kaprun trafen sich Spitzenköche, Touristiker und Produzenten erstmals beim „Festspiel der alpinen Küche".
Was die Vielfalt und die von Natürlichkeit und Purismus geprägte Küche der alpinen Länder betrifft, ist es fast verwunderlich, dass dieser neuen und gleichzeitig sehr alten Koch-Bewegung nicht schon längst ein eigener Festakt gewidmet wurde. Nicht zum musikalischen, sondern kulinarischen Festspiel machten sich Mitte September mehr als 600 Besucher zur Premiere der „Festspiele der alpinen Küche" nach Zell am See-Kaprun auf den Weg. Angesagte Köche aus Österreich und der Schweiz sowie lokale Produzenten und Manufakturen kamen mit Experten der alpinen Kulinarik im Ferry Porsche Congress Center auf einer Bühne zusammen.
Während auf dem Vorplatz „Alpiner Streetfood" wie Pongauer Wildfleischkrapfen mit Sauerkraut genossen wurden, präsentierten 20 regionale Manufakturen ihre Produkte auf dem „Marktplatz". Auf der Bühne ließ sich die Spitzenkoch-Elite tief in die Kochtöpfe schauen. Küchenphilosophische Einblicke gaben unter anderem Andreas Döllerer (Restaurant Döllerer, Golling bei Salzburg), Vitus Winkler (Sonnhotel, St. Veit im Pongau), Sven Wassmer (Restaurant Memories, Bad Ragaz) oder der frisch zu Österreichs Gault-Millau-Koch des Jahres 2020 gekürte Hubert Wallner (Seerestaurant Saag, Wörthersee). Klaus Buttenhauser, der das Netzwerk KochCampus mitinitiiert hat, moderierte das Kochevent. In Workshops debattierte man über die Unterschiede zur österreichischen Küche. Beste Tropfen der lokalen Wein-Terroirs und Anrainer wurden verkostet. Innovationen wie ein Sekt aus dem Most der Kärntner Speckbirnen (Weingut Georgium/Längsee) liefen herb-würzig den Gaumen hinunter. Ein fein abgeschmecktes, einwöchiges Rahmenprogramm in Lokalitäten rund um die Region wie eine Verkostung auf dem Kitzsteinhorn in 3.000 Metern Höhe umrahmten den Hauptveranstaltungstag.
Regionale Manufakturen zeigen ihre Produkte
Auch Touristiker und Vertreter der Lokal- und Landespolitik kamen zu Wort. Das große Interesse an Schnittstellen zwischen Naturtourismus, Landwirtschaft und Kulinarik weiß man im Salzburger „Land der Sinne" längst zu nutzen. „80 Prozent unserer Besucher wollen neben Wandern, Skifahren und Kultur auch lokale Spezialitäten genießen", sagt der Geschäftsführer der Salzburger Land Tourismus GmbH (SLTG), Leo Bauernberger.
Das Festspiel setzte einen zusätzlichen Impuls, beobachtet auch der Landeshauptmann Wilfried Haselauer, der die alpinen Akzente für den gesamten Wirtschaftsraum als entscheidenden Image-Träger definiert. Haselauer ist Vorsitzender der Argealpe, einer Vereinigung alpiner Bundesländer in Österreich, der Schweiz, Italien und Deutschland. Die langjährige Erfahrung und Expertise der Region – etwa durch Projekte wie die Genussroute „Via Culinaria" – wolle man nun auch in einer überregionalen Zusammenarbeit einbringen. Alle sind sich einig, dass in Regionalität eine große Kraft liegt, die vor allem von den vielen innovativen Genusshandwerkern ausgehe. So bekommen auch Milch- und Gemüsebauern, Gärtner, Fischer oder Käser einen wertgeschätzten Platz auf der alpin-kulinarischen Bühne.
„Regionalität ist kein Trend, sondern selbstverständlich", erklärt Dominik Flammer. Der Schweizer Autor gilt als Vordenker der alpinen Küche. Viele Gerichte haben ihren Ursprung in der „Cucina Povera" (Armenküche), die keineswegs arm ist, sondern durch saisontreue, kleinteilige Landwirtschaft eine enorme Vielfalt bereithält. Um das kulinarische Erbe nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, sieht sich die neue Generation der alpinen Kulinariker als eine Bewegung, Altgewohntes wieder zugänglich zu machen. Techniken wie das Konservieren durch Räuchern oder Fermentieren wurden bereits vor mehr als 1.000 Jahren praktiziert. Aufgrund der Abgeschiedenheit der Höfe musste man früher unter extremen Lebensgrundlagen mit dem auskommen, was man hatte.
Experimentieren mit vergessenen Aromen
Dass zwischen seiner Küche und dem Berg, wo alpentypische Produkte wie der Enzian und viele Wildpflanzen in intakter Natur wachsen, (nur) an die 1.000 Höhenmeter liegen, gab Andreas Döllerer zu bedenken. Er galt als rebellischer Pionier, als er vor zehn Jahren mit seiner „Cuisine Alpine" der Kochszene den entscheidenden Denkanstoß verpasste. Nur langsam wurde man sich des Reichtums der eigenen Region wieder bewusst. Mit den Aromen der in Vergessenheit geratenen Wildkräuter zu experimentieren, überraschte nicht nur internationale Gäste, sondern auch Einheimische. Döllerer kocht und interpretiert gern überlieferte Rezepte der Großmutter wie die Hollerstrauben (in Mehl und „weißem Gold" – Weidemilch – gebackene Holunderblüten). Fleisch von einem Kontinent zum anderen zu bringen und alles überall zu jeder Zeit verfügbar zu haben, sei nicht mehr zeitgemäß. So ersetzte er Klassiker wie den Steinbutt durch regionale Fische wie den Saibling. Auf der Festspiel-Bühne präsentierte er geflämmte Bachforelle, mit fermentiertem Rotkrautsaft und Bergwacholder. Seine archaischste Zutat ist der Gletscherschliff. Im Urgesteinsmehl aus Granit wälzte er die „Alpine Jakobsmuschel" – eine mit Dashi aufgegossene Ochsenmark-Eigelb-Creme – in einer Muschel serviert. Das Topping des in Buttermilch und Ribisel (Johannisbeeren) gegarten Melanzane-Ragout (weiße Aubergine) überrascht: Es sind frittierte Hahnenkämme.
Auch der bodenständige Haubenkoch Vitus Winkler aus dem Pongau verarbeitet selbst im Wald gesammelte „Lebensmittel ohne Etikette" zu ebenso verspielt wie puristischen Formaten. In seinem im November erscheinenden Buch „Kräuterreich" lüftet er seine Geheimnisse. Im Signature „Waldbad" kredenzte er Fichtenwipfel und Bärlauch zu einer Tarte. Die würzig-pilzige Taubnessel wurde mit Molke zu einer „wilden Paste". Ein reduzierter weißer Tomatenfond landet in einem Luftballon, der nach sechs Stunden Frost zur Schneeballform findet. Und als Krönung ruht das Blutwurstschaf auf einer essbaren Wolle aus Zuckerwatte und Tannenasche. Topinambur-Chips und Schafsjoghurtperlen treffen als Topping auf geeiste Vogelbeeren. Seine Kernbotschaft lautet: individuell bleiben, ohne seine Wurzeln zu vergessen.
Eine Küche der leisen, aber tiefgründigen Töne
Der Schweizer Zwei-Sterne-Starkoch Sven Wassmer beherrscht den feinen Grad zwischen Nostalgie, Avantgarde und Minimalismus. Kochen ist für ihn verbunden mit Transparenz – tellerarchitektonisch wie auch im übertragenen Sinne. Wie auf der Showbühne kocht er auch zu Hause in seinem Restaurant „Memories" in einem offenen Gast- und Kochraum. Seine Art zu kochen kommt dem Kaiseki nahe, einer japanischen Kochphilosophie, die die Schlichtheit und Natürlichkeit des Essens mit Gleichmut zelebriert. Seine Erkenntnis: „Je länger ich koche, je mehr lasse ich weg", entspricht dem Zeitgeist. Bei Wassmer „müssen Produkte ihre Seele behalten dürfen", und die will er dem Gast eröffnen. Auf der Bühne präsentierte er einen Granola-Kartoffel-Flan mit Sauerrahm und Holzzellulose. Den begleitenden Alpenkaviar vom Stör bezieht er aus einer kleinen Fischerei am Vierwaldstätter See. Die Kartoffelpelle verwertet er aufgepufft als Rösti-Crumble. Für eine fruchtig-würzige Note in der Vinaigrette schätzt er die „Alpenzitrone" (Sanddorn), die er von zwei pensionierten Herren, die mit Eseln den Rückschnitt durchführen, bezieht.
Der Gault-Millau-Koch-des-Jahres 2020, Hubert Wallner aus Kärnten, praktiziert eine Küche „der leisen, aber tiefgründigen Töne". Seine auf Meersalz gegarte, mit Zwiebeltatar und pochiertem Eigelb gefüllte Zwiebel kommt angenehm bescheiden daher und schmeckt archetypisch. Auch sein Germknödel gibt sich selbstbewusst spartanisch. Mit Mohn und einer Espuma aus hefiger Milch gefüllt, schmeichelt er dem Gaumen. Die „falsche Wörtherseeauster" ist eine filetierte Litschi, die er mit Tannenasche „aufgebuchtelt" hat.
Die Kochhandwerker der Alpenländer kochen ebenso filigran wie bodenständig. Sie wirken zentriert und unprätentiös. Sind sie doch kreative Revoluzzer, die ebenso umtriebig wie geerdet ihr Wissen offen weitergeben. Ihr Credo ist, das natürliche Produkt in seiner Einzigartigkeit zu respektieren, um es behutsam, aber voller Raffinesse zu akzentuieren. Nach der erfolgreichen Auftaktveranstaltung darf man sich auf weitere Festspiele rund um die alpine Kulinarik freuen. Die alpine Küche soll über die EU-Initiative „Alpfoodway" 2020 zum immateriellen Unesco-Kulturerbe ernannt werden.