Zuerst verhandeln, jetzt bekämpfen – auch, weil sich der türkische Präsident Erdogan durch seine aktuelle Kurdenpolitik eine Ablenkung von innenpolitischen Krisen verspricht. Denn damit bedient er tief sitzende Feindbilder in der türkischen Bevölkerung.
Der Konflikt mit den Kurden ist seit vielen Jahren eines der größten Probleme der Türkei. Seit der Gründung der türkischen Republik wurden der kurdischen Bevölkerung ihre elementaren Rechte vorenthalten. Seit der Gründung der PKK Anfang der 80er-Jahre kommt es im Südosten der Türkei immer wieder zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Die PKK hat dabei Nordsyrien und den Nordirak oft als Rückzugsgebiete genutzt. Militärische Operationen im Nordirak fanden seitdem in regelmäßigen Abständen statt. In Nordsyrien hielt sich die Türkei allerdings zurück, weil im Gegensatz zum Irak dort zunächst ein stabiles Regime herrschte.
Die AKP-Regierung unter dem damaligen Ministerpräsidenten Erdogan verfolgte zwischen 2009 und 2015 den Versuch, einen Friedensprozess einzuleiten, weil jedem Beobachter dieses Konfliktes klar war, dass eine militärische Lösung nicht möglich war. In dieser Zeitspanne fanden intensive Gespräche zwischen der türkischen Regierung, der kurdischen Partei HDP und auch mit dem inhaftierten Führer der PKK, Abdullah Öcalan, statt. Diese Friedensgespräche waren ein Novum für die Türkei, weil zum ersten Mal ernsthafte Verhandlungen über eine friedliche Lösung der Kurdenfrage stattfanden. Die AKP-Regierung unter Erdogan ging dabei ein großes Risiko ein, weil sie sich mit diesem Friedensprozess insbesondere im nationalistischen Teil der Bevölkerung keine Freunde gemacht hatte.
Kurdische Politiker werden inhaftiert
2015 scheiterten die Verhandlungen dann aber plötzlich. Einerseits hatten Teile der PKK einer Entwaffnung nicht zugestimmt. Es kam erneut zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit zahlreichen Toten. Im Sommer 2015 verlor die regierende AKP in den Parlamentswahlen auch die absolute Mehrheit und konnte nicht mehr ohne Koalitionspartner regieren. Dies führte zu einer radikalen Änderung in Erdogans Kurdenpolitik. Er beendete den Friedensprozess, setzte wieder auf eine militärische Lösung und schwenkte um auf eine nationalistische Politik. Prompt gewann er in vorgezogenen Neuwahlen, weil keine Regierung gegründet werden konnte. Er erlangte wieder die absolute Mehrheit und konnte alleine weiterregieren. Seitdem gehören Militäroperationen im Südosten der Türkei und die Inhaftierung von kurdischen Politikern zum Alltag. Selbst Akademiker und Menschenrechtsaktivisten, die sich lediglich für eine friedliche Lösung der Kurdenfrage einsetzen, werden mit dem Vorwurf der Terrorpropaganda inhaftiert.
Nach dem gescheiterten Putschversuch von Teilen des Militärs 2016 ging Erdogans AKP eine Allianz mit der ultranationalistischen MHP ein, um seine Mehrheit im Parlament noch zu behalten. Die nationalistische Politik Erdogans erreichte damit ganz andere Ausmaße. Dies zeigt sich auch in einer aggressiveren Außenpolitik und einer sogenannten neo-osmanischen Agenda.
Seit 2015 warnt Erdogan die USA und den Westen davor, durch die militärische Unterstützung der in Nordsyrien herrschenden YPG in ihrem Kampf gegen den IS faktisch einen kurdischen Staat an der türkisch-syrischen Grenze zu schaffen. Den Vorschlag, in Nordsyrien eine Sicherheitszone einzurichten, formuliert Erdogan bereits seit 2015. Der Westen und vor allem die Vereinigten Staaten haben diese Forderung immer abgelehnt, weil man der Türkei nicht zutraute, dies alleine zu schaffen.
Ob es uns gefällt oder nicht: Russland und der Iran sind seit Jahren die tonangebenden Akteure im Syrien-Krieg. Der Einfluss der Vereinigten Staaten ist in Syrien lediglich auf die YPG begrenzt, die im Kampf gegen den IS mit ihren Kämpfern am Boden eine zentrale Rolle gespielt haben. Durch die Allianz zwischen Putin und Erdogan in der Syrien-Frage, die insbesondere in den letzten zwei Jahren immer enger wurde, war es zu erwarten, dass Erdogan seiner Drohung auch Taten folgen lässt, und schlussendlich auf eigene Faust eine Sicherheitszone in Nordsyrien einrichtet.
Ob die Sicherheitsinteressen der Türkei wirklich der Grund für den völkerrechtswidrigen Angriff der Türkei auf Nordsyrien waren, muss man aber deutlich infrage stellen. Denn vonseiten der YPG gab es keine Angriffe auf türkisches Territorium. Ganz im Gegenteil hat die Türkei im Kampf gegen den IS sogar kurdische Peschmergaeinheiten über türkisches Territorium nach Kobane ziehen lassen, um die dortigen YPG-Kämpfer gegen den IS zu unterstützen.
Naheliegender ist eher, dass Erdogan mit dem Einmarsch in Syrien eine perfekte Gelegenheit gesehen hat, um innenpolitisch wieder Hochwasser zu bekommen. Nach der demütigenden Niederlage bei den Bürgermeisterwahlen in Istanbul und anderen Großstädten und den Auflösungserscheinungen in der eigenen Partei stand Erdogan mit dem Rücken zur Wand. Seine identitäre Allianz mit der ultra-nationalistischen MHP und seine populistische Rhetorik erzielten kaum noch Wirkung bei der Bevölkerung. Der Feldzug gegen Nordsyrien kam jetzt gerade zum richtigen Zeitpunkt, denn trotz der zunehmenden Kritik und Unzufriedenheit gegen Erdogans Alleinherrschaft, wenn es um Kurden und einen möglichen kurdischen Staat an der türkischen Grenze geht, vergessen große Teile der türkischen Bevölkerung die Fehler und Versäumnisse der Regierung und konzentrieren sich auf den „gemeinsamen Feind".
Erdogan setzt sich als starker Mann des Volkes in Szene
Erdogan ist ein gewiefter Machtpolitiker, der sofort die Chance gewittert hat, mit diesem Krieg sich wieder als starker Mann des Volkes in Szene zu setzen. Er bedient damit die große Sehnsucht in weiten Teilen der Bevölkerung nach alter Größe. In den gleichgeschalteten Medien ist seit Kriegsbeginn die Rede davon, dass die USA, der Westen und Israel die Türkei umzingeln würden, um das Land am Ende zu spalten. Die Kurden seien lediglich ein Instrument dieser „dunklen Mächte". Dieser Krieg habe allerdings gezeigt, dass die große türkische Nation es mit allen aufnehmen könne. Diese paranoide Wahrnehmung wird in sämtlichen Sendern und Zeitungen dem Volk erzählt.
Auch ermöglicht dieser Krieg Erdogan, der Bevölkerung zu suggerieren, er löse die wichtigen Probleme des Landes. Seit Monaten gibt es eine sehr große Unzufriedenheit in der Bevölkerung aufgrund der Wirtschaftskrise und der über drei Millionen syrischen Flüchtlinge. Parolen, die wir ansonsten von der AfD kennen, sind auch in der Türkei sehr verbreitet, nämlich dass die syrischen Flüchtlinge die Sozialsysteme belasten, Türken ihre Arbeit wegnehmen und dass sie vom Staat durchgefüttert werden. Durch die Etablierung dieser sogenannten Sicherheitszone will Erdogan einen großen Teil der Flüchtlinge in diese Gebiete abschieben, obwohl die Flüchtlinge aus ganz anderen Regionen Syriens kommen. Dafür müssen aber auch Unterkünfte, Siedlungsgebiete und neue Städte gebaut werden, die große Aufträge für die gebeutelte türkische Bauindustrie verschaffen. Und Erdogan weiß ganz genau, dass in einem Krieg die Opposition beziehungsweise weite Teile der Opposition sich nicht trauen werden, sich der nationalistischen und militaristischen Rhetorik zu verweigern.
Auch Ekrem Imamoglu, der für viele als hoffnungsvoller Gegenkandidat zu Erdogan bei der nächsten Präsidentschaftswahl gehandelt wird, stimmt ein in diese Rhetorik. Das verwundert einen nicht, weil die CHP schon immer einen stramm nationalistischen Flügel hatte und immer noch hat.
Erdogan versucht mit diesem Krieg auf sehr riskante Art und Weise seine persönliche Macht doch noch zu retten, koste es was es wolle. Die Zukunft eines Landes und einer ganzen Region setzt er für seine persönliche Macht aufs Spiel und bedient die tiefsitzenden Feindbilder in der türkischen Bevölkerung gegenüber den Kurden.