Auf einem Spaziergang an den Resten der Berliner Mauer mit den Bildern von einst im Kopf können Interessierte Zeitgeschichte hautnah erleben.
Wer erinnert sich noch an die vielen Schicksale und dramatischen Begebenheiten, die sich an der Bernauer Straße im Bezirk Mitte nahe der Bornholmer Brücke ereignet haben? Dort, wo Weltgeschichte geschrieben wurde?
„Im Nieselregen standen wir, mein Sohn und ich, gegen 23 Uhr auf der leeren Brücke im Westbezirk Wedding, als sich nach langem Warten endlich, aber nur langsam, das eiserne Tor auf der Ostseite öffnete. Ein, zwei Menschen zwängten sich hindurch. Ängstlich ihre Gesichter, nicht wissend, was mit ihnen geschehen werde. Dann kamen, drängten Hunderte, Tausende nach – wieder fühle ich eine Gänsehaut", erzählt eine Zeitzeugin auf dem Spaziergang mit einem Stadtführer vom Mauer-Pavillon entlang der Bernauer Straße bis zur Oderberger Straße.
Wie ging es weiter? Die Gruppe bleibt stehen und lauscht: „Wir waren emotional überwältigt, eigentlich überfordert; mehr und mehr Menschen strömten in die Freiheit. Sie weinten, lachten, umarmten sich, sangen gemeinsam. Kerzen wurden angezündet, bunte Blumensträuße schmückten bald ‚these funny little cars‘, wie eine Dame aus London die Trabis nannte. Sektkorken knallten. Fremde, Bekannte, alle küssten und drückten sich, fassten sich an die Hände. Das war ein Moment für die Ewigkeit". Die Stimme der Berlinerin wird leiser, etwas flatterig.
Kurz vor der Freiheit erschossen
„So eindringlich kann ich Euch den Moment des Mauerfalls leider nicht schildern, ich war zu jung. Einige Schauplätze aber, die sich ins Gedächtnis und in die Geschichtsbücher eingebrannt haben, sehen wir auf unserer einstündigen Tour in kurzen Abständen", erklärt der pfiffige Dreißiger mit dem Charme einer echten Berliner Schnauze. Mit viel Wissen, auch anschaulich mit historischen Fotografien unterlegt, spricht er – trotz des Ernstes – auf unterhaltsame Weise über die Einzelschicksale, die sich nach dem Mauerbau am 13. August 1961 hier ereignet haben.
„Zum Beispiel Else: die alte Frau, die aus Verzweiflung über die plötzliche Trennung von ihren Verwandten aus dem Fenster ihres Hauses direkt an der Bernauer Straße ins rettende Feuerwehrtuch auf der Westseite springt – und doch verstirbt." Oder über den NVA-Soldat Conrad Schumann, der während seiner Kontrollgänge an der Mauer zwei Stunden lang seine Flucht im Kopf durchspielte, vor Nervosität eine Zigarette nach der anderen rauchte; immer wieder mal die Rolle Stacheldraht vor ihm unbeobachtet niederdrückte – und dann in Uniform, Stahlhelm und Stiefel mit seinem spontanen „Sprung in die freie Welt" das Jahrhundertfoto lieferte. Oder die mutigen Tunnelbauer, die sich immer wieder aufs Neue gerade hier Tricks einfallen lassen mussten, um unbemerkt an ihren unterirdischen Bauwerken arbeiten zu können, ohne entdeckt zu werden. „Die Jungs konnten keine Sandberge hintereinander auftürmen. Sie trugen unentwegt Tüten und Taschen mit dem abgetragenen Erdreich – als Tarnung zugedeckt mit Äpfeln und Birnen – heimlich weg. Und das, je nach Beschaffenheit der Tunnel, zum Teil über zwei Jahre lang." Trotz aller Vorsicht haben leider auch bei dieser „Mauerüberwindung" ein paar DDR-Bürger ihr Leben lassen müssen oder wurden gefasst und saßen später für mehrere Jahre wegen Republikflucht hinter Gefängnismauern.
Die traurige Geschichte des Chris Gueffroy, der das vorletzte Todesopfer der Honecker-Diktatur an der Berliner Mauer war, und das letzte Opfer, das durch den Einsatz von Schusswaffen ums Leben kam, erzählt Guide Stefan mit leiser Stimme. Dieses Schicksal ist besonders tragisch: Chris hörte von einem befreundeten Grenzer, dass der Schießbefehl am Todesstreifen aufgehoben worden sei. Dieses Signal nahm er als Möglichkeit, die Flucht zu wagen. Er hatte es fast geschafft, war praktisch mit einem Bein schon im Westen – die Soldaten waren schneller – unerbittlich und brutal wurde er niedergeschossen. Sie haben Chris die Freiheit nicht gegönnt.
Wandelnd lässt sich der Wandel am besten erleben. Die Uferpromenade am Reichstag beiderseits der Spree ist so ein Ort. Schlendernd kann man hier Erinnerungen nachhängen – im erhabenen Gefühl, einen epochalen Wandel miterlebt zu haben.
Wo einst – westlich – ein großer Parkplatz war mit freiem Blick zur fernen Kongresshalle, steht das Paul-Löbe-Haus, und der Blick geht zum Kanzleramt. Das hat sich vor die Kongresshalle – heute das Haus der Kulturen der Welt – geschoben. Östlich stand damals die Mauer am Ufer, hinter einer abgerissenen Brücke ein einziges altes Haus, das der DDR-Abrisswut getrotzt hatte. Ein schaurig-schönes Bild, noch 1989. Längst ist das Haus weg, rundum alles neu – mit Hauptbahnhof.
Der Potsdamer Platz, das gebaute Einheitsprojekt neben dem Symbol Brandenburger Tor, eignet sich gut zum Schlendern, zum Spurenlesen, zum Verirren in Erinnerungen. Hier schlug nach dem Mauerfall die Geburtsstunde des neuen Gesamt-Berlins, hier konnten die Leute aus West und Ost sehen, wie Neues entstand, unbelastet von West und Ost. Hier sahen sie gute, aber auch todlangweilige Häuser wachsen und aus einem Niemandsland ein Zentrum entstehen. Ein gemeinsames, abseits von Breitscheidplatz West und Alexanderplatz Ost. Sie fühlten eine neue Identität. Aus Westberliner Sicht bestand das öde Gelände aus dem einstigen Weinhaus Huth und dem verfallenen Esplanade. Für die Westler war hier die Stadt zu Ende.
Einen Steinwurf weiter stehen die Besucher vor dem Holocaustmahnmal, das mit seinen vielen grauen Stelen eindrucksvoll an Deutschlands schlimmste Zeit erinnert. Der Blick nach links gestaltet sich freundlicher: der Reichstag hat dank Norman Foster wieder eine Kuppel.
In der Nähe steht das Holocaustmahnmal
Trotz der Neubauten in den Ministergärten, trotz der zum Teil spektakulären neuen Botschaftsgebäude im Tiergarten: die alten Bilder sind gespeichert, wie die früheren Eindrücke aus der Bernauer Straße, die heute immer noch wie eine Grenze wirkt. Flanieren an der Friedrichstraße? Hier merkt der Westberliner den neuen Puls der Stadt. Hier gehen die Menschen schneller als am Ku’damm. Am Hackeschen Markt sind sie internationaler als am Tauentzien. Man spürt: Das neue Berlin speist seinen weltweit anziehenden Ruf auch aus dem Pariser Platz, aus dem Prenzlauer Berg, aus dem Gendarmenmarkt, aus der Prachtstraße Unter den Linden, vielleicht bald auch aus dem Humboldt-Forum. Alles ehemals Ostberliner Orte, die eine Gemeinsamkeit haben: fernab der westlichen Bezirke.
Die neue alte Mitte zieht wie eine Zentrifugalkraft das große Interesse an, der Westberliner fühlt sich immer noch ein wenig in Randlage: Die Kultur, Großveranstaltungen ziehen ab. Zurück bleibt das verachtete ICC, ein verlorener Flughafen, bald auch Tegel. Im grünen Bezirk Zehlendorf vermissen viele Bewohner die Amerikaner im Stadtbild, rund um den Hüttenweg, im Radio den AFN – auch das gehörte zum Westberliner Lebensgefühl.
Heute sind die zwei Hälften noch kein Ganzes, aber schon ganz schön ganz. Die Tour führt weiter, hinein in den Tiergarten, in das Grün, das weder Westberlinern, noch Ostberlinern mehr fremd ist. Im Tiergarten, mit Blick aufs Brandenburger Tor, sprach vor nicht allzu langer Zeit ein Präsident aus Amerika öffentlich über das Glück der Einheit – selbstbewusster und selbstverständlicher übrigens als eine ostdeutsche Bundeskanzlerin.