Der Skandal um den Wurstwaren-Hersteller Wilke zieht Kreise. Klagen über Abzocke und Ausbeutung auf den Schlachthöfen reißen nicht ab. Industrie und Wissenschaft arbeiten mit Hochdruck an Alternativen zu Currywurst, Schnitzel und Co.
Zwar wollen 54 Prozent der Bundesbürger weniger Fleisch essen. Doch in den vergangenen zehn Jahren hat jeder Deutsche im Schnitt eine halbe Kuh, fünfeinhalb Schweine und 180 Hühner gefuttert. Diese eher unappetitlichen Zahlen hat die Heinrich-Böll-Stiftung als Herausgeberin des „Fleischatlas" ermittelt. Pro Kopf sind das gut 60 Kilo Fleisch pro Jahr, eine Zahl, die sich seit 1991 kaum geändert hat. Besonders beliebt sind nach wie vor Schwein und Geflügel.
Der Fleischatlas 2018 liefert zahlreiche weitere interessante Daten: Frauen greifen immer öfter zu fleischlosen Alternativen wie Käse und Tofu. Männer langen nach wie vor richtig zu, wenn ein saftiges Steak oder ein Braten auf dem Teller liegt. Ihr Fleischkonsum ist in etwa doppelt so hoch wie bei den Damen. „Im Laufe eines Lebens verbraucht so jeder Deutsche zwischen 635 und 715 Tieren", errechneten die Wissenschaftler. Einen Rückgang des Fleischkonsums gibt es laut „Fleischatlas" nur bei Menschen mit hohem Bildungsniveau und entsprechendem Einkommen. „Vielen Menschen bleibt bei all den Skandalen der Fleischbrocken im Hals stecken", sagt Dirk Janssen, Pressesprecher beim Bund für Umwelt und Naturschutz NRW (BUND). „Viele suchen nach Alternativen."
So richtig verzichten auf Fleisch will indes kaum jemand. Und deshalb beschäftigen sich weltweit zahlreiche Wissenschaftler und die Industrie mit dem Thema Fleischersatz. „Es gibt verschiedene Ansätze", sagt Janssen. „Die einen versuchen, beim Ersatz gänzlich auf Fleisch zu verzichten. Der andere Ansatz ist, dass man Fleisch künstlich züchtet. Bei Fleisch aus der Retorte wird kein Tier geschlachtet."
Die Idee kommt aus den Niederlanden. Dort haben Wissenschaftler der Massentierhaltung schon länger den Kampf angesagt. Vor vier Jahren stellte der niederländische Forscher Professor Max Post (Universität Maastricht) eine Fleischbulette aus der Retorte vor. Damals allerdings noch mit bescheidenem Erfolg: Beim Geschmack fiel die Bulette durch, und die Kosten waren explodiert. Rund 250.000 Euro kostete der kleine Bratling. „Ich hab’ ihn natürlich probiert. Die Tester hatten recht: Er war ziemlich trocken. Dem Fleisch fehlte es erkennbar an Fett", räumte der Medizin-Professor aus Maastricht ein.
So richtig verzichten möchte kaum einer
Doch mittlerweile hat sich einiges getan in Sachen Labor-Fleisch. „Wir haben die Kosten für einen Hamburger-Bratling auf zehn bis elf Dollar reduziert", sagt Post. Er treibt das Projekt weiter emsig voran, neuerdings sogar als Chef-Wissenschaftler einer Start-up-Firma. Post und seine Mitstreiter erzeugen ihre Fleischkulturen aus den Muskel-Stammzellen von Rindern. Die vermehren sie in Bio-Reaktoren. Unter idealen Wachstumsbedingungen teilen sich die Zellen und tun das, was ihre Bestimmung ist: Sie entwickeln sich zu Muskelgewebe. „Es dauert mindestens 24 Stunden, bis sich Muskelzellen geteilt haben. Aber ihr Wachstum ist exponenziell! Schon nach 50 Tagen hat man Abermillionen Zellen."
Bislang experimentieren die Wissenschaftler immer noch im Labor. Post: „Aber wir wissen längst, wie wir die Technologie im größeren Maßstab umsetzen können. Und dass sie auch in Reaktoren mit – sagen wir – 25.000 Litern funktioniert. Nach unseren Kalkulationen kommen wir dann auch auf die zehn bis elf Dollar für den Hamburger", so Post. Auch die Rezeptur macht offenbar Fortschritte. Damit die Hamburger nicht mehr so trocken sind, züchten die Entwickler inzwischen auch Fettgewebe aus den Stammzellen von Rindern und mischen es mit der Muskelmasse aus dem Bioreaktor. Peter Verstrate, Lebensmittel-Technologe und Geschäftsführer des neuen Start-up-Unternehmens: „Der erste Hamburger bestand nur aus Muskelfasern. Er enthielt kein Fett und kein Bindegewebe. Seither haben wir viel unternommen, um kompletteres Fleisch zu erzeugen."
Inzwischen sind die Niederländer nicht mehr allein. Auch in Kalifornien und in Israel wurden Firmen gegründet, die Fleisch in Zellkulturen züchten und vermarkten wollen. Das werde die ganze Sache noch beschleunigen, sind Mark Post und Peter Verstrate überzeugt: „Für uns ist das der Start eines neuen Industriezweigs." Fleisch sei immerhin ein Billionenmarkt. Anfang 2019 hat sich auch Deutschlands Marktführer für Geflügelfleisch „Wiesenhof" in den Markt mit künstlichem Fleisch eingeschaltet. Der Konzern beteiligte sich an dem Start-up Unternehmen SuperMeat. Das Konzept: Aus einer kleinen Gewebeprobe aus der Haut eines Huhns werden Zellen gewonnen, die in einer Nährstofflösung vermehrt werden. Die Zellen formen winziges Muskelgewebe und daraus wächst in einem speziellen Bioreaktor schließlich richtiges Fleisch – in Portionen. Diese können dann direkt verarbeitet werden. Der ganze Prozess soll schließlich, so die Vision der Unternehmer, in kleinen „Fleischmaschinen" stattfinden, die in Restaurants, Supermärkten und Haushalten aufgestellt werden können. Das Fleisch würde so dezentral direkt dort hergestellt, wo es nachgefragt wird. Das stößt allerdings nicht nur beim Deutschen Bauernverband (DBV) auf Skepsis, auch die Verbraucher müssten diese „Fleischmaschinen" akzeptieren. „Kurz- und mittelfristig sehen wir im Bereich des sogenannten In-vitro-Fleisches noch kein Potenzial", sagt DBV-Generalsekretär Bernhard Krüsken. Aber das könne sich bei weiterem technischem Fortschritt auch noch ändern.
In Bioreaktoren wächst richtiges Fleisch
Wer nicht auf das künstliche Fleisch aus dem Reagenzglas warten will, findet schon heute in den Supermärkte ein breites Sortiment an veganen und vegetarischen Alternativen: Burger, Würstchen, Schnitzel und Schinken gibt es mittlerweile aus Hülsenfrüchten, Gemüse, Getreide oder aus anderen pflanzlichen Zutaten.
Wer allerdings aus Angst vor Krebs, Herzinfarkt oder Darmerkrankungen auf Fleisch verzichtet, ist neuerdings möglicherweise auf dem Holzweg. Eine der zuletzt veröffentlichten Studien kommt zu dem Schluss: Man kann davon essen, so viel man will. In der Summe gebe es „keinen statistisch bedeutsamen Zusammenhang zum Risiko von Herzerkrankungen, Krebs oder Diabetes für diejenigen, die weniger rotes und verarbeitetes Fleisch konsumierten", so Epidemiologe Bradley Johnston in „Zeit Online". Die Wissenschaftler räumen aber selbst ein: Die wissenschaftliche Beweislage ist dürftig. Womöglich beweist nächste Woche ein anderes Team, dass rotes Fleisch doch schädlich ist.