Bei Olympia in Tokio will Patrick Hausding mit einer weiteren Sternstunde von der großen Bühne abtreten. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist bislang erfüllt: Er ist verletzungsfrei.
Patrick Hausding ist kein besonders abergläubischer Mensch, doch derzeit möchte Deutschlands bester Wasserspringer immer mal wieder auf Holz klopfen. Über seine ganze Karriere hinweg hat Hausding mit Verletzungen und Unfällen zu kämpfen gehabt, die chronischen Knie- und Schulterschmerzen werden ihn wohl ein Leben lang begleiten. Doch ansonsten ist der Berliner in der noch frühen Olympiasaison bislang erstaunlich gut durchgekommen.
Das war in der Vorsaison noch ganz anders gewesen, als er nach einem schweren Trainingsunfall im Januar sogar ein vorzeitiges Ende seiner Karriere fürchtete. Bei einer Trockenübung vom Trampolin öffnete er bei einem Rückwärtssalto die Schraube zu früh und landete auf Kopf und Nacken. „Es hat im ganzen Körper geknackst", sagte Hausding. Ein geprellter Nackenwirbel, ein Bündelriss im Rückenmuskel und ein Taubheitsgefühl in den Fingern waren die Folge.
Und was machte Hausding aus dieser völlig verkorksten Vorbereitung? Er überzeugte bei der WM im südkoreanischen Gwangju mit den Plätzen vier, (3 Meter Synchron), fünf (1 Meter) und sechs (3 Meter Einzel) und sicherte dem deutschen Wassersprungteam einen Quotenplatz für Olympia. Dass Hausding selbst diesen Startplatz in Anspruch nehmen darf, steht außer Frage, auch wenn er sich erst noch bei der Deutschen Meisterschaft beweisen muss. Hierzulande kann ihm aber schon lange keiner mehr das Wasser reichen. Die Frage lautet eher: Reicht es für den inzwischen 30-Jährigen auch international noch mal für eine Sternstunde? So wie bei seiner Olympiapremiere 2008 in Peking, als er mit Synchronpartner Sascha Klein Silber vom Turm gewann. Oder wie vor drei Jahren in Rio de Janeiro, als Hausding mit Bronze im 3-Meter-Wettbewerb für die erste deutsche Wasserspringer-Medaille in dieser Disziplin seit 104 Jahren sorgte.
Reicht es für eine Sternstunde?
„Mein Ziel ist erst mal, in meinen Wettkämpfen ins Finale zu kommen", sagt Hausding. Der Mann mit der langen Verletzungs-Historie ist vorsichtig geworden. Doch natürlich weiß auch auch Hausding, dass er vom Drei-Meter-Brett mit allen Konkurrenten mithalten kann – sofern seine Form passt. „Fragt mich vier Wochen vorher noch mal, dann kann ich ungefähr sagen, wie es aussieht", sagt er ausweichend.
Was der Rekord-Europameister aber jetzt schon weiß: Der Abschied von den Ringen wird ihm schwerfallen. „Ich sehe dem recht emotional entgegen", sagte Hausding dem Sid. Olympia sei „sowieso immer ein Highlight", aber das Wissen darüber, dass er nicht mehr zurückkehren werde, „macht es noch mal besonderer". Vermissen wird er vor allem das Erlebnis Olympia, das für fast alle Sportler wie eine Droge wirkt.
„Man wohnt in einer kleinen Stadt, wo einem alle möglichen Menschen über den Weg laufen, die irgendwo das Gleiche teilen", erzählt Hausding. Auch die Eröffnungsfeier im Olympiastadion werde er in Tokio noch intensiver genießen, „so etwas hat man nicht alle Tage".
Hausding wird nach den Sommerspielen in der japanischen Metropole oder spätestens ein Jahr danach seine aktive Karriere beenden – und im deutschen Wasserspringen eine Riesenlücke hinterlassen. Schon allein sportlich ist er für Bundestrainer Lutz Buschkow nicht zu ersetzen. Zwei Olympia-, vier WM- und sage und schreibe 33 EM-Medaillen hat Hausding bislang gesammelt. In Deutschland wird diese Bilanz auf viele Jahre hinaus unerreicht bleiben.
„Bis jetzt sehe ich noch keinen, der mir da das Wasser reichen könnte", sagt Hausding. Er gibt zu, dass der Ruhm eine gewichtige Rolle für ihn spiele. „Genau deswegen machen es die Sportler, damit sie am Ende in den Geschichtsbüchern zu finden sind", sagt er und fügt hinzu: „Diese Menge an Medaillen hat vor mir noch keiner geschafft, damit bleibe ich hoffentlich den nachfolgenden Springer-Generationen in Erinnerung."
Zumindest der Bundestrainer wird seinem Vorspringer wohl noch einige Tränen nachweinen. Buschkow hat Hausding einst den Spitznamen „Kampfschwein" verpasst, als der mal wieder ohne viel Training zu einem
EM-Titel gesprungen war. Hausding hat den Wasserspringern in den vergangenen Jahren oft die Bilanz gerettet, ob im Einzel- oder im Synchron. Dadurch sind die Fördergelder konstant geblieben, was für eine Randsportart wie Wasserspringen nicht selbstverständlich ist.
„Wir sind als Wasserspringer keine Prinzen oder Prinzessinnen, wir kommen mit den normalen Dingen aus und müssen nicht extravagant wohnen oder im Audio A8 vorgefahren werden", sagt Hausding. Er selbst verdient mit dem Sport zwar momentan seinen Lebensunterhalt, doch reich ist er damit nicht geworden.
Auch das Sensations-Gold bei der WM 2013, als er in Barcelona im Turm-Synchronspringen mit Klein sogar die als unschlagbar geltenden Chinesen besiegt hatte, konnte er nicht wirklich zu Geld machen. „Jeder Wasserspringer, der die Chinesen besiegen kann, sollte ein Held sein", sagte hinterher der chinesische Sportjournalist Lou Jian.
Ein Held ist Hausding in Deutschland zwar nicht, aber er ist ohne Zweifel das Gesicht des Wasserspringens. Nicht nur wegen seiner Erfolge, sondern auch wegen seiner Art. Hausding ist eloquent und um keinen Spruch verlegen. Zu seinen chronischen Schmerzen sagte er einst: „Es gab Zeiten, da habe ich Ibuprofen genascht wie Gummibärchen."
Ruhm spielt eine wichtige Rolle
Keine Frage: Hausding wird dem deutschen Wasserspringen auch für die öffentliche Wahrnehmung fehlen. Ohne ihn dürfte noch weniger Rampenlicht auf die Randsportart fallen, Teamkollegen wie Tina Punzel, Martin Wolfram oder Lou Massenberg verfügen über deutlich weniger Star-Potenzial.
Hausding wird sich die Entwicklung nach dem Karriereende von außen anschauen, eine aktive Rolle im Deutschen Schwimm-Verband (DSV) strebt er wegen der dort seit Jahren ausgetragenen Machtkämpfe nicht an. Auch in die Funktion des Trainers treibt es ihn nicht, „weil die aus meiner Sicht viel zu hart arbeiten für das, was sie am Ende verdienen", wie er sagt.
Hausding will sein Lehramtsstudium (Sport und Englisch) beenden und dann sehen, was die Zukunft bringt. „Das wird für mich eine ganz neue Welt, aber da freue ich mich auch drauf", sagt Hausding und ergänzt: „Mal den ganzen Tag mit etwas anderem verbringen als damit, in die Schwimmhalle zu gehen."
Doch noch ist er mit jeder Faser seines Körpers ein Leistungssportler. Und als solcher will er in Tokio mit einer weiteren Sternstunde von der großen Bühne abtreten. Seine vierten und letzten Olympischen Spiele genießen und trotzdem maximal erfolgsorientiert an den Start gehen – das schließt sich für Hausding nicht aus. „Ich bin sehr ehrgeizig", sagt er. Und zurzeit auch verletzungsfrei. Der Konkurrenz dürfte das nicht gefallen.