Viele Menschen gehen nur deshalb zum Arzt, weil sie einsam sind. Das belastet das Gesundheitssystem. In Großbritannien gibt es deshalb nun „Geselligkeit" auf Rezept.
Irgendwann ging es einfach nicht mehr. Die Panikattacken. Die Schlaflosigkeit. Die ständige Angst, zu versagen. Sarah Smith, deren Namen wir auf eigenen Wunsch geändert haben, konnte nicht mehr klar denken. „Ich ging über die große Hängebrücke, die es hier in Bristol gibt", erzählt die 35-jährige Britin. „Ich fragte mich: Was passiert, wenn du jetzt springst? War’s das dann? Oder brichst du dir nur die Beine, damit du endlich nicht mehr zur Arbeit musst?"
Es war ihr neuer Job, der die junge Frau an den Rand der Verzweiflung getrieben hatte: eine Stelle als Marketing-Managerin in einem renommierten Unternehmen, eigentlich genau das, was sie immer wollte. Aber die Verantwortung überforderte Smith. „Auf einmal war ich für 5.000 Mitarbeiter zuständig", sagt sie. „Viele Kollegen waren deutlich älter und erfahrener als ich. Ich fühlte mich wie eine Versagerin, die sich ihren Job erschlichen hatte." Dass ihre Chefs sie lobten und sie über tadellose Qualifikationen verfügt, schob Smith gedanklich zur Seite. „Ich war am Ende. Und mir war klar, dass ich es ohne Hilfe nicht schaffen würde."
Ihr Hausarzt verschrieb ihr zunächst Schlaftabletten, Anti-Depressiva und eine Verhaltenstherapie, die auch Wirkung zeigte. Doch obwohl Smiths Panikattacken zurückgingen, fühlte sie sich noch immer rastlos. Ein weiterer Monat verging, bis ihr Arzt ihr schließlich eine Broschüre für ein neuartiges Angebot in die Hand drückte: „Social Prescribing". Seit Kurzem können Mediziner in Großbritannien nämlich nicht nur Medikamente verordnen, sondern auch soziale Teilhabe.
Soziale Kontakte für bessere Gesundheit
Geselligkeit auf Rezept? Das mag esoterisch klingen, hat aber einen ernsten Hintergrund, den nahezu alle westlichen Gesellschaften kennen: Viele Menschen gehen nur deshalb zum Arzt, weil sie einsam sind. Vor allem ältere Patienten sind von diesem Phänomen betroffen. In Großbritannien ist die Situation offenbar derart akut, dass die Regierung unlängst eine eigene Ministerin für Einsamkeit („Minister for Loneliness") ernannt hat.
Andere Patienten, so wie Sarah Smith, haben zwar ein intaktes Familienleben, benötigen aber für ihre Genesung mehr als eine Packung Tabletten. „Social Prescribing" könnte genau diesem Personenkreis helfen und gleichzeitig unnötige Arztbesuche verhindern. Denn – so die Idee – wer genug soziale Kontakte hat, dem geht es auch gesundheitlich besser.
Gerade in Großbritannien ist eine solche Entlastung dringend nötig. Das staatliche Gesundheitssystem, der National Health Service (NHS), leidet unter chronischer Unterfinanzierung. Seit Jahren berichten Medien über Patienten, die monatelang auf Operationen warten oder auf Krankenhaus-Fluren schlafen müssen, weil alle Betten belegt sind. Allein dieses Jahr muss der NHS über 205 Millionen Pfund an die britische Regierung zurückzahlen – Zinsen für gewährte Kredite. Sogar in der Brexit-Debatte spielte das kranke Gesundheitssystem eine Rolle. Angeblich sollte das Geld, welches das Vereinigte Königreich momentan an die EU überweist, künftig dem NHS zugutekommen.
Die britische Regierung hofft nun, mithilfe von „Social Prescribing" das System zu entlasten. Vor allem bei psychischen Erkrankungen soll die alternative Behandlungsmethode helfen. Was genau man allerding unter dem Begriff versteht, ist bis heute nicht klar definiert. Für manche ist es schlicht ein Treffen des städtischen Seniorenclubs, für andere ein Alkohol-Entzug oder ein Fußballtraining im sozialen Brennpunkt. Manche Ärzte verschreiben ihren Patienten auch eine Haushaltshilfe oder einen Berater, der ihnen bei finanziellen Problemen zur Seite steht.
Bei Sarah Smith war es ein mehrwöchiger Kurs zum Gärtnern, konzipiert für Menschen mit psychischen Problemen. „Wir lernten, Unkraut zu jäten, Bäume zu fällen und Blumen zu pflanzen", erinnert sich Smith. „Es klingt verrückt, aber ich habe mich besser gefühlt als jemals zuvor in meinem Büro." In ihrer Gruppe hätten sich ganz unterschiedliche Personen befunden: „Manche litten unter Depressionen, andere unter Einsamkeit. Ein Mann hatte seit Wochen nicht mehr das Haus verlassen." Ob die Arbeit im Freien ihnen allen half, kann die 35-Jährige nicht beurteilen. „Ich hatte aber schon das Gefühl, dass es den meisten danach besser ging."
Der Gärtnerkurs gehört zum Avon Wildlife Trust, einer lokalen Umweltorganisation, die schon länger entsprechende Angebote im Programm hat. „Bisher haben wir uns dabei hauptsächlich auf Bürger aus benachteiligten Stadtteilen konzentriert", erklärt Kelly Bray, die zuständige Sozialarbeiterin. „Dadurch, dass Ärzte unseren Kurs nun auch verschreiben können, haben wir unsere Zielgruppe deutlich erweitert." So hat die Organisation seit Neuestem einen Kurs speziell für Demenz-Patienten ins Leben gerufen. „Unsere Teilnehmer blühen da richtig auf", schwärmt Bray. „Bei einigen hilft es schon, bestimmte Pflanzen zu betrachten, um sich an die eigene Kindheit zu erinnern." Die Natur sei „ein sehr guter Heiler".
Schon jetzt tummeln sich auf dem Markt unzählige Anbieter, die vom Social Prescribing profitieren. Nicht alle bieten einen nachweislichen Nutzen, und nicht alle sind seriös. Um den Durchblick zu behalten, will allein der NHS England bis 2021 1.000 sogenannte Link Worker einstellen. Diese Berater sollen an Gemeinschaftspraxen andocken und das Bindeglied zwischen Patienten, Ärzten und Anbietern bilden. Das hochgesteckte Ziel: Bis 2024 sollen mithilfe der Link Worker bis zu 900.000 Patienten pro Jahr ein soziales Rezept erhalten.
Die Erwartungen sind hoch. Das Royal College of Psychiatrists, der Berufsverband der Psychiater in Großbritannien, sprach sich auf seinem diesjährigen Symposium klar für Social Prescribing aus. Sogar Prince Charles schickte eine Videobotschaft, in der er die Idee lobte.
Noch aber gibt es dazu viele offene Fragen – nicht nur zur Umsetzung, sondern auch zur Wirkung. So einleuchtend das Konzept nämlich klingt, so unklar ist, ob das Gesundheitssystem am Ende wirklich entlastet wird. Vom individuellen Nutzen ganz zu schweigen: Ist ein Kaffeekränzchen tatsächlich immer besser als ein Besuch beim Arzt? Wird es gelingen, Bedürfnisse und Angebote richtig zusammenzubringen? Oder könnten Mediziner in überfüllten Krankenhäusern gar dazu verleitet werden, ihre Patienten schnell zu Dritten abzuschieben, um Zeit und Geld zu sparen? All das ist noch unklar.
Noch gibt es viele offene Fragen
Evaluationen gibt es bis jetzt nur im Kleinen. Richard Kimberlee, Gesundheitsexperte an der UWE University in Bristol, berät den NHS bei der Umsetzung der sozialen Rezepte. In einem Feldversuch hat er 128 Patienten über einen Zeitraum von einem Jahr zu ihren Erfahrungen befragt. Das Ergebnis: Gefühlt litten alle Teilnehmer am Ende deutlich weniger unter Depressionen und sozialer Isolation. Und: 60 Prozent von ihnen gingen nach Abschluss ihrer Workshops seltener zum Arzt als zuvor. In einem Paper zu seiner Arbeit schätzt Kimberlee, dass für jedes Pfund, das in Social Prescribing investiert wird, die Gesellschaft am Ende einen Gegenwert von 2,90 Pfund zurückerhält.
Im Gespräch räumt der Wissenschaftler ein, dass eine genaue Schätzung schwierig ist. „Man kann viele Faktoren einfach nicht messen", betont Kimberlee. „Was ist, wenn die Leute immer mehr Antidepressiva verschrieben bekommen und am Ende viele Medikamente in der Toilette landen? Wer berechnet diese Kosten mit ein?" Auch unabhängig vom Geld ist Kimberlee von der Grundidee überzeugt: „Wir schauen uns an, was Menschen wirklich brauchen. Ist es ein Kochkurs? Hilfe bei der Wohnungssuche? Oder ein Gruppentreffen gegen Einsamkeit?" Doch es brauche Zeit, bis sich Ärzte auf diese Idee eingestellt hätten: „Das ist nichts Geringeres als ein kompletter kultureller Wandel. Da kann man nichts überstürzen."
Auch Sarah Smith, die Marketing-Managerin aus Bristol, hat nach ihrem Gärtnerkurs ihr Leben verändert. Sie ist ruhiger geworden, kann nachts endlich wieder schlafen. „Wenn ich aufgeregt bin, gehe ich jetzt öfter in die Natur", sagt die 35-Jährige. „Ich habe gelernt, wie ich abschalten kann und was gut für mich ist." Ihren Job in der Agentur hat sie inzwischen gekündigt und gegen eine Ausbildung zur Hebamme eingetauscht: ein anstrengender Beruf, obendrein noch schlechter bezahlt. „Aber er gibt meinem Leben Sinn. Und genau das ist mir wichtig."