Das seit 150 Jahren im Kreißsaal praktizierte Verfahren namens Kristellern, das durch Druck von Händen und Armen den Geburtsvorgang nötigenfalls beschleunigt, wird neuerdings als sinnlos und gefährlich für Mutter und Kind eingestuft. Es hat eine Debatte um Gewalt in der Geburtshilfe ausgelöst.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO hatte 2018 ausdrücklich von weiteren Kristellern-Einsätzen abgeraten. Auch die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe sowie der Deutsche Hebammenverband haben inzwischen strikt Position gegen das Verfahren bezogen, bei dem in der letzten Geburtsphase äußerer Druck mittels Händen und/oder Armen auf den oberen Teil der Gebärmutter ausgeübt wird, um damit ein schnelleres Herausgleiten des Kindes zu erreichen. Denn obwohl das Verfahren, das nach seinem Erfinder, dem Gynäkologen Samuel Kristeller, benannt ist, seit 1867 in vielen Kreißsälen weltweit noch immer praktiziert wird, wurde es bislang kaum auf den wissenschaftlichen Prüfstand gestellt, vor allem gibt es so gut wie keinen durch Forschungsergebnisse belegten Nachweis, dass durch Druck auf den als Fundus uteri bezeichneten Teil der Gebärmutter, sprich durch Fundus-Druck, tatsächlich die Geburtsdauer verkürzt werden kann.
Wohl aber sind neben zusätzlichen Schmerzen längst diverse weitere negative Folgen oder Risiken für Mutter und Kind bekannt. Beispielsweise besteht für die Mutter die Gefahr, dass sich die Plazenta vorzeitig ablöst oder dass ein zentraler Beckenbodenmuskel reißt. Auch das Risiko eines Dammrisses, von Verletzungen des Darmschließmuskels, von Rippenprellungen und -brüchen oder von Hämatomen ist erhöht. Beim Kind besteht die Gefahr der Stauchung des Kopfes oder des Sauerstoffmangels. Auch Nervenschäden oder das Einkeilen der Schulter hinter dem Schambein der Mutter sind mögliche Gefahrenquellen. Die oftmals mit dem Kristellern verbundene psychische und seelische Zusatzbelastung für die Mutter darf nicht unerwähnt bleiben. Vor diesem Hintergrund empfehlen (nicht nur) die oben genannten Experten für den Fall, dass die Geburt zu lange dauert, alternative Verfahren wie die Saugglockengeburt oder den Kaiserschnitt. Denn die großen Infektionsgefahren, die seinerzeit mit dem Gebrauch der Geburtszange verbunden waren und denen Samuel Kristeller letztlich mit seiner Erfindung entgegenwirken wollte, sind heute kaum mehr vorhanden.
Zahlreiche Risiken für Mutter und Kind
Daher sind sich die Experten weitgehend darüber einig, dass das Kristellern nicht mehr als gängige Routine bei der Geburtshilfe durchgeführt werden sollte, sondern höchstens noch in absoluten Ausnahmesituationen als Ultima Ratio angewendet werden sollte, beispielsweise bei akutem Sauerstoffmangel oder bei starkem Nachlassen der Herztöne des Kindes. Aber nicht einmal bei diesen Notfällen sollte das Kristellern laut einer neuen, im Sommer im Fachmagazin „Hypertension Research in Pregnancy" veröffentlichten Studie mehr eingesetzt werden, dieses Geburtshilfeverfahren solle vielmehr komplett aufgegeben werden. Es sei letztlich nutzlos und nur mit Risiken behaftet. Dieser Stand der Forschung wird hierzulande seit einigen Jahren auch recht erfolgreich von Ulrike Harder in der Öffentlichkeit verbreitet. Die langjährige Lehrerin für Hebammen am Berliner Viventes Klinikum Neukölln leistet inzwischen als Dozentin für geburtshilfliche Fortbildungen und freiberufliche Hebammen viel beachtete Aufklärungsarbeit. Ihr Credo lautet: „Mit etwas mehr Geduld in der letzten Geburtsphase" müsse der Kristeller-Handgriff absolut nicht mehr angewendet werden. Häufig sei es schon ausreichend, die Lage der Gebärenden hin zu einer optimalen Geburtsposition zu verändern.
Doch die alltägliche Praxis in vielen Kreißsälen der Welt sieht ganz anders aus. Kristellern ist immer noch Standard, auch größtenteils in der Bundesrepublik, wo der Slogan „Schneller mit Kristeller" schon lange in Krankenhäusern populär ist. Genaue Zahlen oder exaktes statistisches Material darüber gibt es nicht, da nirgendwo zwingend vorgeschrieben ist, dass der Einsatz des Kristeller-Handgriffs in den Geburtsberichten protokolliert werden muss. Die Chancen der Mütter auf erfolgreiche Klagen bei etwaigen Schädigungen werden damit erheblich reduziert, und die Kliniken können sich auf allgemeine mit der Geburt verbundene Risiken rausreden. In einem jüngsten Beitrag der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" wurde unter der Headline „Der sinnlos malträtierte Bauch" die Vermutung geäußert, dass in Deutschland noch immer „jede zehnte bis jede fünfte Schwangere während der Geburt mal mehr, mal weniger heftig kristelliert wird". In Spanien sei das Kristellern demnach sogar bei verzögerten Geburten in 70 Prozent der Fälle üblich. Auch in Ländern wie der Türkei, Brasilien oder Indien sei diese Art der Geburtshilfe gängige Praxis.
Problematisch ist zudem, dass viele künftige Mütter von ärztlicher Seite häufig nicht vorab oder rechtzeitig über den möglichen Einsatz des Kristellerns aufgeklärt werden. Der gemeinnützige Verein „GreenBirth" hat daher folgende Forderung aufgestellt: „Mütter und Väter müssen auf jeden Fall vor dem sogenannten Kristellern verständlich informiert werden. Auch in Notsituationen bleibt Zeit für eine kurze Erklärung. Die Aussage ‚Wir drücken jetzt ein bisschen von oben mit’ reicht nicht aus angesichts der Heftigkeit dieser Intervention." Auf jeden Fall darf der Kristeller-Handgriff nur in der letzten Phase der Geburt, der sogenannten Austreibungsphase, angewendet werden. Voraussetzungen dafür: Der Muttermund muss sich schon bis auf zehn Zentimeter geöffnet haben, und das Kind muss in Schädellage bereits in den Geburtskanal hineingerutscht sein.
Jahrzehntelang ein notwendiges Übel
Besonders umstritten ist beim Kristellern inzwischen der Einsatz des ganzen Unterarms, um Druck auf den Uterus auszuüben. Ulrike Harder: „Der oft zu sehende Uterus-Druck mit dem Unterarm ist nicht zu empfehlen, da sich das Kind kaum in Führungslinie halten lässt und der Druck der harten Unterarmknochen Gewebeschädigungen am Myometrium und Hämatome verursachen kann." Vergleichsweise schonend ist es hingegen, wenn der Geburtshelfer, sprich Arzt oder Hebamme, mit flach aufgelegten Händen den oberen Teil der Gebärmutter umfasst und bei jeder Wehe gleichzeitig mit dem Pressen der Mutter leichten Druck von oben ausübt. Falls die Gebärende in der letzten Phase der Geburt zu erschöpft sein sollte, um selbst einen ausreichend großen Pressdruck zu erzeugen, kann das Kristellern durchaus hilfreich sein, um den sonst womöglich nötigen Einsatz einer Saugglocke oder eines Kaiserschnitts zu vermeiden. Falls das Kind nicht in Schädellage am Beckenausgang positioniert sein sollte, kommt Kristellern ohnehin nicht in Frage.
Jahrzehntelang haben gebärende Mütter hierzulande die Kristellern-Praxis offenbar als notwendiges Übel bei der Geburt hingenommen. Doch im Zuge der #Me-Too-Debatte wurde das Kristellern in den vergangenen beiden Jahren immer häufiger als „Gewalt in der Geburtshilfe" thematisiert. Immer mehr Frauen berichteten von traumatischen Erfahrungen. Häufig wurde beschrieben, dass sich der Geburtshelfer regelrecht auf ihren Bauch geworfen hätten. Noch dazu habe er meist geradezu drohend über ihnen gestanden, da es vor allem beim Einsatz des Unterarms üblich ist, dass der Geburtshelfer auf einen neben dem Bett postierten Schemel steigt. „Auch wenn es für viele Ärzte und Hebammen eine selbstverständliche Routine ist, bei einer Intervention ohne Einverständnis der Frau müssen wir von einem Übergriff sprechen", sagte Dr. Angelica Ensel, die im Departement Gesundheitswissenschaften an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaft lehrt, vor einem Jahr in der „Süddeutschen Zeitung". Auch die vor sieben Jahren in der Bundesrepublik gegründete „Roses Revolution" hat als Bewegung den Kampf gegen die Gewalt in der Geburtshilfe aufgenommen.