Ein ganzer Kontinent rebelliert gegen soziale Ungleichheit und Korruption
Sozialer Frust ist eine leicht entflammbare Energie. Staut sich genug davon auf, bedarf es oft nur eines kleinen Funkens, bis sich unterdrückte kollektive Wut entzündet und in Aufruhr entlädt.
In Frankreich reichte im Herbst 2018 eine Spritpreiserhöhung zwischen vier und acht Cent pro Liter, um die Gelbwesten-Proteste loszutreten. Vor allem Pendler in ländlichen Gebieten, die auf ihr Fahrzeug angewiesen sind, machten gegen die Regierung mobil. Bei vielen ging es finanziell ans Eingemachte, als die Benzin- und Dieselpreise über die Marke von 1,60 Euro pro Liter kletterten. Die Bilder von brennenden Mülltonnen und zerstörten Schaufensterscheiben auf dem Pariser Pracht-Boulevard Champs-Elysées gingen um die Welt.
In Lateinamerika findet derzeit eine Gelbwesten-Bewegung im XXL-Format statt. In Ecuador kürzte Präsident Lenín Moreno erst die Sozialleistungen, danach strich er die Subventionen auf Treibstoff. Er wollte damit mehr Geld in die Staatskasse spülen, um einen Kredit vom Internationalen Währungsfonds (IWF) zurückzuzahlen. Viele Mikrobus-Fahrer, Kleinbauern und fliegende Händler, die gerade so über die Runden kommen, gingen auf die Barrikaden. Die Regierung musste vorübergehend aus der Hauptstadt Quito fliehen.
In Chile macht der Zorn der Massen derzeit die größten Schlagzeilen. Das Anden-Land galt einst ob seiner politischen Stabilität und der relativ guten Wirtschaftszahlen als die Schweiz Südamerikas. Doch die makroökonomischen Daten standen weitgehend nur auf dem Papier. Zwar vervielfachte sich das Pro-Kopf-Einkommen, aber nur wenige merkten etwas davon. Ein Großteil der Bevölkerung verdient um die 500 Euro pro Monat. Importierte Konsumgüter wie Autos, Kühlschränke oder Laptops sind hingegen so teuer wie in Europa, den USA oder Ostasien.
Vor diesem Hintergrund kann die minimale Erhöhung des Drucks eine maximale Wirkung erzeugen. Das passierte, als vor rund drei Wochen die U-Bahnpreise in der Hauptstadt Santiago um umgerechnet wenige Eurocent anstiegen. Das klingt nach wenig. Doch etliche Haushalte müssen alles zusammenkratzen, damit es zum Leben reicht. Viele Bürger machten ihrem Ärger Luft und gingen auf die Straßen.
Auch von anderer Seite nahmen die Belastungen dramatisch zu. In der Zeit der Pinochet-Diktatur (1973 bis 1990) wurde Chile zum Experimentierfeld des Neoliberalismus. Der freie Markt regierte. Ergebnis: Bildung, Altersvorsorge und Gesundheit sind heute weitgehend privatisiert. Nur wer über die nötigen Mittel verfügt, hat Zugang.
Chile steht beispielhaft für die Misere eines ganzen Kontinents. Eine kleine Oberschicht schwimmt im Luxus, geht shoppen in den USA und verschanzt sich in ihren Nobelherbergen, die oft mit stacheldrahtbewehrten Mauern abgeschottet sind. Die dünne und zerbrechliche Mittelschicht hat Angst, abzustürzen. Die große Mehrheit darbt. Die Schere zwischen Arm und Reich ist in den vergangenen Jahren immer weiter auseinander gegangen.
Die politische Elite ist abgehoben oder von Korruption durchsetzt. Selbst die Vorkämpfer der Armen wie Boliviens Präsident Evo Morales sind davor nicht gefeit. Dieser hat mehrfach die Verfassung gebeugt, um bei Wahlen wieder antreten zu können. Tausende demonstrierten, weil sie hinter Morales’ letztem Erfolg beim Urnengang Tricksereien sahen.
Die Regierungen zwischen Caracas und Santiago haben kein Konzept, wie sie einen rohstoffreichen Kontinent zu mehr Wohlstand bringen. Einige wenige profitieren, die große Mehrheit kommt auf keinen grünen Zweig. Die gesellschaftliche Ordnung ist zementiert, die Chancen für sozialen Aufstieg tendieren gegen null. Solange die Öl- und Gaspreise auf dem Weltmarkt nach oben schossen, hatte der Staat genug Geld, um den Sprit erschwinglich zu halten. Sorgen niedrigere Preise für geringere öffentliche Einnahmen, müssen die Bürger tiefer in die Taschen greifen.
Notwendig wäre die Quadratur des Kreises aus wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und sozialer Balance. Davon ist Lateinamerika leider Lichtjahre entfernt. Europa leidet unter den dort vorherrschenden Extremen nicht, weil es unterschiedliche Formen der sozialen Marktwirtschaft gibt. Eine Garantie, dass dies immer so bleibt, ist das jedoch nicht. Die Gelbwesten-Proteste in Frankreich haben das gezeigt.