Mit der Günter Rohrbach Filmpreisverleihung verwandelte sich Neunkirchen nun schon zum neunten Mal in eine Hochburg des deutschen Kinos. Den meisten Applaus erntete der politische Appell des Schauspielers Rainer Bock.
Bei ihrer kurzen Videobotschaft zeigt sich Nora Fingscheidt ganz unkonventionell. Mit wilden, vom Wind aufgewirbelten Haaren steht die 36-jährige Regisseurin und Drehbuchautorin auf dem Dach eines New Yorker Hochhauses. In der Hand hält die diesjährige Gewinnerin des Günter Rohrbach Filmpreises eine kleine Flasche Wasser. „Bei uns ist es noch sehr früh", richtet sie ihre Worte von der Leinwand an die Gäste der Filmpreisverleihung, „deswegen stoße ich auch mit Wasser an." Sie bedauere es sehr, nicht in Neunkirchen sein zu können. Sie befindet sich gerade in den USA, arbeitet dort an einem neuen Projekt. Umso mehr freue sie die Wertschätzung, die ihrem Spielfilmdebüt „Systemsprenger" beim diesjährigen Günter Rohrbach Filmfest zuteil wird. Neben dem Hauptreis erhält der Film an diesem Abend auch den Preis des Oberbürgermeisters für hervorragenden Filmschnitt. Diesen nehmen die beiden Film-Editoren Julia Kovalenko und Stephan Bechinger entgegen.
Viele Botschaften per Video
Einfach ist der Stoff von „Systemsprenger" nicht. Im Fokus der Geschichte steht das unberechenbare, oft aggressive neunjährige Mädchen Benni. Ein Kind, das sich scheinbar nicht in die Gesellschaft integrieren kann und nach und nach durch das gesamte soziale Hilfsnetz hindurchfällt. Pflegefamilie, Wohngruppe, Sonderschule, sie hat alles durch, und egal wo man Benni hinschickt: Sie fliegt sofort wieder raus. Das wilde Mädchen ist das, was man beim Jugendamt einen „Systemsprenger" nennt. Dabei will die Neunjährige nur eines: Liebe, Geborgenheit und wieder bei ihrer Mutter wohnen. Doch diese hat Angst vor dem Kind und verschließt sich vor der Verantwortung. Einzig der Anti-Gewalttrainer Micha – verkörpert von Schauspieler Albert Schuch, der an diesem Abend für diese und seine Rolle in „Atlas" mit dem Preis des Saarländischen Rundfunks ausgezeichnet wurde – versucht sie in der Abgeschiedenheit einer Waldhütte aus der Spirale von Wut und Aggression zu befreien. Doch auch er stößt bald an seine Grenzen.
Über 120 Stunden Rohmaterial kamen bei den Dreharbeiten zu ihrem ersten Werk in Spielfilmlänge zusammen. Allein die Recherche zu „Systemsprenger" dauerte über fünf Jahre. In dieser Zeit besuchte Nora Fingscheidt zahlreiche Kinderpsychiatrien, Kinderheime und Schulen für Erziehungshilfen, um die Geschichte so authentisch wie möglich nachzuzeichnen. Nichts sei frei erfunden. Die Einstellungen seien nur verfremdet, betont die Regisseurin. Beim diesjährigen Wettbewerb der Berlinale gewann Fingscheidt mit der Premiere ihres Werkes gleich den Silbernen Bären für neue Perspektiven der Filmkunst. Jetzt wurde „Systemsprenger" sogar für die engere Wahl der Oscar-Verleihung vorgeschlagen, in der Kategorie „Bester Internationaler Film".
„Eine großartige Leistung, für die wir Nora Fingscheidt herzlich gratulieren möchten", sprach ihre Laudatorin, die deutsche Schauspielerin, Regisseurin, Drehbuchautorin und diesjährige Vorsitzende der Günter-Rohrbach-Jury, Margarethe von Trotta. Bei dieser Gelegenheit plauderte die Filmemacherin von „Das Versprechen", „Rosenstraße" und „Hannah Arendt" gleich aus dem Nähkästchen und erinnerte sich an die eigenen Karriereanfänge. „Ende der 70er-Jahre war es für die Frauen keine Selbstverständlichkeit, eine Chance zu bekommen, ihre Begabung unter Beweis zu stellen", erzählte die deutsche Filmlegende auf der Bühne der Neuen Gebläsehalle. „Und die, die es versucht haben und die nötigen Mittel dazu bekamen, wurden mit dem abfälligen Titel ‚Frauenfilm‘ gebrandmarkt." Heute sieht das zum Glück schon ganz anders aus. „Dieser Preis jetzt, der seit neun Jahren verliehen wird, ist der Beweis", betont die 77-Jährige. „Von neun Filmen, die bisher ausgezeichnet wurden – dieses Jahr eingerechnet – sind fünf von Frauen gemacht worden. Eine Entwicklung, die mich persönlich mit großer Genugtuung erfüllt."
Was der Regisseurin dagegen zu schaffen machte, war die Abwesenheit des Film- und Fernsehproduzenten und Namensgebers des Filmfestivals, Günter Rohrbach. Er litt an einem grippalen Infekt und konnte an diesem Abend nicht bei der Preisverleihung dabei sein. Zum ersten Mal seit dem Start des Filmpreises im Jahr 2011. Insgesamt fielen an diesem Abend gleich mehrere Ehrengäste aus. Neben Nora Fingscheidt und Günter Rohrbach mussten auch der Schauspieler Albrecht Schuch – er entschuldigte sich via Videobotschaft –, und die Schauspielerin Rosalie Thomass passen. In dem Film „Rufmord" verkörpert Thomass die Lehrerin Luisa, die wegen eines Aktfotos, welches gegen ihren Willen im Internet veröffentlich wird, plötzlich um ihre gesamte Existenz kämpfen muss. Für diese grandiose schauspielerische Leistung wurde die 32-jährige Münchnerin als beste Darstellerin ausgezeichnet. „Ich hätte den Preis sehr gerne persönlich abgeholt und mit euch allen gefeiert", beteuerte die Schauspielerin in Form einer kurzen Videobotschaft an die Gäste des Filmpreises. Aufgrund einer Erkrankung im engsten Familienkreis musste sie die Verleihung leider absagen.
Mehrere Ehrengäste fielen aus
Der diesjährige Preis der Saarland Medien GmbH ging an den Kameramann Frank Lamm für seine gewaltige Bildsprache im Film „Deutschstunde". Die im Oktober bundesweit in den Kinos angelaufene Produktion basiert auf dem gleichnamigen Roman von Siegfried Lenz aus dem Jahr 1968. Im Fokus stehen ein jüdischer Maler, dessen Werke von den Nazis als „entartete Kunst" verfemt werden und ein Dorfpolizist mit nationalsozialistischer Gesinnung, der sein Pflichtbewusstsein über jegliche persönliche Emotion stellt. Der elfjährige Sohn des Polizisten gerät in diesem Konflikt zwischen die Fronten.
Ein Star zum Anfassen wurde den Gästen der Preisverleihung dennoch geboten. Der Theater- und Filmschauspieler Rainer Bock reiste an diesem Tag nach Neunkirchen, um den Preis für den besten Darsteller für den Film „Atlas" entgegenzunehmen. Wie die gleichnamige Figur aus der griechischen Mythologie muss auch seine Filmfigur Walter bei Wohnungsräumungen als Möbelpacker große Lasten tragen. Zuviel wird es für ihn, als er im Auftrag seiner recht zwielichtigen Spedition an der Tür seines Sohnes – den er bereits im Kindesalter verlassen hat – klingelt. Walter sucht Kontakt zur Familie, bringt es aber nicht fertig, seine wahre Identität zu offenbaren.
Innerhalb von nur 17 Jahren in der Filmindustrie drehte Bock über 80 Spielfilme, nicht nur in Deutschland. Auch die amerikanischen Produzenten reißen sich um den 65-jährigen Darsteller aus Kiel. Rainer Bock war schon bei Millionen-Dollar-Produktionen wie „Inglorious Basterds", „A most wanted Man" und „Homeland" zu sehen. Bei der dritten Staffel der beliebten Serie „Better Call Saul" spielte er sogar die größere Rolle des Architekten Werner Ziegler, der für einen Unterweltboss ein unterirdisches Meth-Labor bauen muss. Doch als er an diesem Abend die Bühne der Gebläsehalle betritt, ist Bock weit weg vom Hollywood-Glamour und namhaften Regisseuren. Nach einem knappen Dankeschön für den Preis wird der deutsche Schauspieler plötzlich politisch und spricht sich ganz klar gegen Faschismus aus. „Es kann nicht sein", sagte Bock, „dass sich in der heutigen Zeit braunes Magma das Recht herausnimmt, eine Einflussnahme auf das Theaterspiel zu nehmen und wieder mal unsere blühende Kultur bedroht." Damit spielt Bock unter anderem auf die letzten Wahlen in Thüringen an. „Vielleicht sind Preisverleihungen auch dazu da, um zu sagen: Moment mal, hier stehen wir und lassen uns nicht einschüchtern, und wir machen so weiter und werden gegen Euch anhalten." Seine Worte untermauert der Weltstar mit einem kleinen Ausschnitt, der auf die Leinwand projiziert wird. Der vierminütige Clip gibt den Songtext „Das Phänomen" von Hanns Dieter Hüsch wieder. „Ein für mich sehr persönlicher, tiefgründiger Text", erzählt er kurz nach dem gemeinsamen Foto mit den restlichen Preisträgern des Abends.
Vor allem die letzten beiden Sätze haben für Bock eine besondere Bedeutung: „Nur wenn wir in uns alle sehen, besiegen wir das Phänomen. Nur wenn wir alle in uns sind, fliegt keine Asche mehr im Wind", rezitiert er das Gedicht. „Das wollte ich den Gästen mit auf den Weg geben."