Alkohol und Drogen machten das Leben von Hermann Wenning kaputt. Um Geld zu beschaffen, wurde er irgendwann zum Einbrecher und landete schließlich im Gefängnis. Eine Geschichte von Selbstbetrug, Hoffnungslosigkeit und einer wundersamen Kehrtwende.
Wenn Hermann Wenning anfängt, über sein Leben zu reden, dann ist es seine spontane und sympathische Offenheit, die einen überrascht und binnen weniger Minuten einfängt. Ohne Umschweife erzählt der 55-Jährige von Abgründen, Selbstaufgabe und Verzweiflung und einer unfassbaren Kehrtwende. Einer Vergangenheit also, die mehr als genug Stoff für einen Film bieten würde.
Wennings Weg in eine langsame Spirale nach unten beginnt sehr früh. In Legden im Münsterland wird er geboren, die Eltern sind Landwirte, Hermann wächst mit zwei jüngeren Brüdern auf. Gerade mal 13 Jahre ist er alt, als er mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus landet. Mit Kumpels hatte er getrunken, so wie es immer wieder unter Jugendlichen vorkommt, die zeigen wollen, wie cool und erwachsen sie schon sind. Der Junge schämt sich aber danach, seine Eltern sind sauer. Doch das Thema wird abgehakt, kann ja mal vorkommen. „Die haben das nicht gesehen, dass ich vielleicht abrutschen könnte", erinnert sich Hermann Wenning heute. „Alkohol ist ja auch gesellschaftlich akzeptiert. Man sagt ja auch: Komm, darauf trinken wir einen. Niemand würde sagen, komm, darauf kiffen wir einen."
Er trinkt weiter, bedient sich immer wieder heimlich an den Alkoholvorräten der Eltern. Auch seine beiden jüngeren Brüder trinken, werden aber nicht abhängig. Anders bei Hermann Wenning. Der Alkohol wird mehr und mehr zum Muss, der junge Mann versucht damit, seine Unsicherheit zu kaschieren. „Ich war angeberisch, wollte mich darstellen. Aber man merkt, dass es nicht gut ist." Er kann aufhören, wenn er das will, das redet sich der damals 16-Jährige ein.
„Helle Welt" der Aufputschmittel wird zum Albtraum
Seinen Eltern zuliebe absolviert er eine Ausbildung zum Landwirt, um irgendwann den elterlichen Bauernhof zu übernehmen. Die Prüfung schafft er erst beim zweiten Mal, beim ersten Termin ist er betrunken. Und obwohl er den Beruf nicht mag, macht er später die Meisterprüfung. Hermann Wennings eigentliche Liebe gehört dem Sport. Er ist erfolgreicher Läufer, trainiert jeden Tag, läuft in der Woche 100 Kilometer. „Das war mein Leben." Er gewinnt einige Rennen, wird Bezirksmeister. Da er nicht ständig trinkt, sondern sich eher als „Quartalstrinker" bezeichnet, schlägt der Alkohol zunächst körperlich nicht so an.
Psychisch jedoch steckt der junge Mann in der Abhängigkeit, mit 18 Jahren hat der Alkohol auch seinen Körper im Griff. Seine Eltern versuchen ihm zu helfen, bitten ihn, in Therapie und eine Selbsthilfegruppe zu gehen. „Ich wollte das aber nicht, ich wollte mit niemandem darüber reden, das sollte keiner wissen."
Hermann Wenning spielt „eine Show", wie er sagt. Schließlich geht sein Vater in den Ruhestand und verpachtet den Bauernhof. Dem jungen Hermann wird eine Last von den Schultern genommen. Er nimmt einen Job bei der Müllabfuhr an, filmt nebenbei Hochzeiten und kellnert in einer Kneipe. Es macht ihm Spaß, er arbeitet gerne und genießt es, in der Stadt zu wohnen. Aber er fühlt sich auch unter Druck. Sein Ehrgeiz, möglichst viel zu leisten, führt zu einer Art Arbeitssucht. Mit 31 kommt er in einer Disco zufällig mit Ecstasy in Berührung. „Ich bin voll drauf abgefahren. Den dumpfen Rausch des Alkohols fand ich immer widerlich. Aber hier war ich auf einmal in einer hellen, bunten Welt."
Hermann Wenning nimmt fortan regelmäßig Aufputschmittel, die „helle Welt" wird bald zu einem dunklen Albtraum aus nächtelanger Schlaflosigkeit und tagelangem komatösem Schlaf. Sport ist nicht mehr möglich und auch die Arbeit leidet massiv darunter. Er fehlt oft, seine Firma erteilt Abmahnungen. Auch seine erste richtige Beziehung mit der 18-jährigen Bea ist für den 31-Jährigen keine Motivation, aufzuhören. Bea versucht ihm zu helfen, will ihn von den Drogen wegbringen. Schließlich gibt sie auf, die Beziehung bricht auseinander.
Hermann Wennings Leben spielt sich fortan in einer Art Parallelwelt ab. „Ich war arbeitslos, den ganzen Tag zu Hause, habe Technomusik gehört und Drogen genommen." Der Konsum wird immer mehr, die Ersparnisse gehen zur Neige, Kredite auf eine Eigentumswohnung und eine Haushälfte kann er nicht mehr bedienen. Bald steht der junge Mann vor dem Nichts. Immer noch redet er sich alles schön, sieht die Schuld nicht bei sich. Als er nicht mehr weiß, von was er die Drogen bezahlen soll, fasst er einen fatalen Entschluss.
„Ich hatte eines Nachts die Idee, auf Baustellen Leergut zu klauen." Zunächst kämpft er noch mit sich, sein Gewissen meldet sich. „Als Mensch, der vorher nie kriminell war, anderen was wegzunehmen, das war schon ein Problem für mich." Mit seinem ersten Einbruch überschreitet Hermann Wenning eine Grenze, es wird immer leichter. „Als Nächstes klaute ich Leergut im großen Stil aus Getränkemärkten." Ein anderes Mal schmeißt er mit einem Gullydeckel die Scheibe eines Aldi-Marktes ein und stiehlt Zigaretten. „Ich hatte Angst und bin dann nach zwei, drei Minuten weg. Dann habe ich gemerkt, dass keine Polizei kommt. Dann bin ich noch mal zurück und habe den Rest im Laden geplündert."
Irgendwann bricht er in Firmen ein, manchmal in sieben bis acht in einer Nacht. Auch Privathäuser sind dabei, etwa zehnmal steigt er ein. „Da bin ich dann mal von einer Frau überrascht worden. Sie hat geschrien und ich bin aus dem Fenster gesprungen." Dieses Erlebnis ist ein Schock für ihn. Der teuflische Kreislauf aus Drogenkonsum und Geldbeschaffung treibt ihn dennoch weiter. Schließlich wird er nach dem Einbruch in eine Versorgungsfirma verhaftet. Mit der Auflage, eine Therapie zu machen, bekommt er Bewährung. Nach 13 Tagen bricht er ab und flüchtet von Osnabrück nach Hamburg. Bei seiner Ankunft ist er so betrunken, dass er seine Koffer verliert.
Hermann Wenning meldet sich beim Sozialamt als obdachlos, erhält einen Tagessatz, mit dem er sich zunächst mit Heroin versorgt. Dann nimmt er Kontakt zu einer Bewährungshelferin auf, die es schafft, dass der Haftbefehl gegen ihn aufgehoben wird. Sie vermittelt ihn in ein Methadon-Programm. Doch Hermann Wenning braucht den Kick, er fängt wieder an zu trinken und nimmt Amphetamine. Der Geldmangel lässt ihn wieder straffällig werden, er wird erneut verhaftet, kommt wieder mit Bewährung davon. Doch der Weg nach unten scheint unaufhaltsam.
Bei einem Tankstelleneinbruch wird Hermann Wenning übermütig. Er stiehlt einen Geländewagen, den er als Fluchtwagen nutzt, und kommt spontan auf die Idee, bei seiner Ex-Freundin Bea vorbeizufahren. „Ich wollte ihr den dicken Wagen zeigen, sie sollte sehen, dass es mir gutgeht." Vor Ort fährt Hermann Wenning in einen Zaun, ein Nachbar beobachtet das, notiert sich das Kennzeichen. Die Polizei ermittelt und vernimmt auch Bea, die schließlich den Namen ihres Ex-Freundes nennt. Hermann Wenning wird erneut verhaftet und diesmal zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. „Irgendwann später habe ich Bea mal einen Brief geschrieben und ihr dafür gedankt." Denn die Verhaftung rettet ihm später sozusagen das Leben.
Doch zunächst gibt Hermann Wenning das Ganze noch einen Schub nach unten. „Für mich war klar, dass mein Leben so weitergeht, wenn ich wieder rauskomme." Auch im Gefängnis kommt er an Drogen, es ist sogar erstaunlich leicht. Er raucht Haschisch und irgendwann keimt in ihm der Gedanke auf, wie toll es wäre, clean zu sein. „Dann habe ich einen Film mit David Duchovny gesehen, der einen drogensüchtigen Arzt spielte, der wegen einer einzigen Sache mit den Drogen aufhörte." Und wie im Film kommt diese einzige Sache auch in Hermann Wennings Leben und wird zum Schlüsselerlebnis. Einer seiner Brüder schickt ihm einen aktuellen Zeitungsausschnitt, in dem über Hermann Wenning als immer noch amtierendem Rekordhalter im Langstreckenlauf berichtet wird. Die Zeitung hat sogar ein Bild des jungen Hermann als strahlendem Sportler abgedruckt.
Im Gefängnis schafft er es, sein Leben herumzureißen
„Das war der Moment, in dem mir bewusst wurde, dass ich alles falsch gemacht hatte. Dass ich mich selbst ruiniere. Dass ich meiner Familie viel angetan habe, das ich den Einbruchsopfern sehr viel Leid zugefügt habe." An dieser Stelle kommt Hermann Wennings Stimme ins Stocken, er wird einen Moment still. Man spürt, wie tief ihn dieser Gedanke auch heute noch bewegt.
Schon am nächsten Tag nach Erhalt des Briefes fängt Wenning im Gefängnis wieder mit dem Laufen an, sein von Drogen und Alkohol geschwächter Körper macht schon nach zwei Kilometern schlapp. Doch Hermann Wenning ist entschlossen, spürt wieder diese Energie von damals. Er trainiert jeden Tag, irgendwann schließen sich sogar andere Gefangene an, die ihn zuvor eher skeptisch beobachtet hatten. Schließlich läuft er eine Stunde am Stück. Er fühlt sich befreit, auf dem richtigen Weg. Und das Leben schickt ihm dann auch noch den richtigen Menschen. Ein Vollzugsbeamter nimmt Hermann Wenning mit zum Volkslauf nach Münster. Und das, obwohl Wenning keine Ausgangsgenehmigung hatte, weil er während seiner Haftzeit bei einem Arztbesuch einmal aus dem Fenster gesprungen und geflüchtet war. Die Freiheit währte damals nur kurz, nach einem Tag schon wurde er wieder verhaftet. Dass dieser Beamte trotzdem das Vertrauen in ihn setzt, macht Hermann Wenning stolz. „Das gab mir noch mal einen Schub, dass ich wieder vertrauenswürdig war, auch, dass ich mir selbst wieder vertrauen konnte." Er nimmt keine Drogen mehr, entsagt dem Alkohol und sogar den Zigaretten. Eine achtmonatige Therapie, die er nach seiner Haft beginnt, hilft ihm dabei. Hier lernt er auch, über sich zu reden, seine Schwächen anzuerkennen. Ein riesiger Schritt für den sonst so verschlossenen Mann. Wenning findet Arbeit im Garten- und Landschaftsbau, schließlich erhält er ein Angebot als Straßenwärter im öffentlichen Dienst, wo er heute noch angestellt ist.
Ein Lauffreund bringt ihn auf die Idee, sein erstes Buch zu schreiben. „Lauf zurück ins Leben" erscheint 2010, Wenning arbeitet darin seine Geschichte auf, und hofft, dadurch anderen zu helfen, die ähnliches durchmachen. Bei einer Buchvorstellung kommt eine Lehrerin mit dem Angebot auf ihn zu, einen Vortrag in der Schule zu halten. Es ist der Startschuss für eine neue Aufgabe als Vortragsredner. In den letzten zehn Jahren hat er schon um die 500 Termine absolviert. „Ich mache das sehr gerne. Es ist gut, wenn darüber geredet wird." Einmal kommt ein junges Mädchen auf ihn zu und fragt ihn, ob er nicht mal mit ihrem Freund reden könnte. Der hätte auch Alkohol- und Drogenprobleme. Wenning redet mit beiden, der Junge wirkt verschlossen. „Ich hatte da nicht so die Hoffnung." Doch nach einem Jahr kommt eine E-Mail, der Junge hatte sein Leben geändert. Für Wenning wird es immer wichtiger, über den leichtfertigen Umgang mit Alkohol aufzuklären. Er schreibt ein weiteres Buch. „Versoffene Jugend: Eine Lebensgeschichte".
Nun hat Hermann Wenning beim Geistkirch Verlag sein drittes Buch mit dem Titel „Einbruch!" veröffentlicht. „Das sind die Sachen, die am schlimmsten waren", sagt der 55-Jährige. Dabei ist es ihm auch wichtig zu betonen, dass die Drogenpolitik besser werden müsste. „Das würde die Beschaffungskriminalität begrenzen." Sein neues Buch sieht er als Abschluss. Dann wird er noch mal ganz still, bevor er sagt: „Ich habe immer noch Schuldgefühle. Ich möchte mich noch mal entschuldigen."
Sein Leben laufe aber sehr gut mittlerweile, sagt er. „Ich bin heute glücklicher als früher. Ich habe viele Freunde zurückbekommen. Ich empfinde das als unheimliches Glück." Hermann Wenning hat den Alkohol und die Drogen besiegt, sein Leben in den Griff bekommen. Und ist das geworden, was er immer sein wollte und eigentlich schon immer war: ein starker Mensch.