Der Buchenwald in Hessen hat seinen Namen nicht verdient. Erst recht nicht im Herbst. Zu dieser Zeit ist der Nationalpark ein Star auf der Bühne der Wälder.
Je tiefer man in den Buchenwald vordringt, desto mehr sieht man rot. Das Laub leuchtet in der Sonne wie ein Meer aus roten Lämpchen. Die Augen können sich gar nicht satt sehen. Dabei ist nur jede tausendste Buche eine Blutbuche. „Sie wird mit rotem Zellsaft geboren", sagt Ranger Alexander Backhaus. Der Zwei-Meter-Mann führt Wanderer durch den Nationalpark Kellerwald-Edersee, der halb so groß ist wie die Stadt Kassel. Dabei zeigt er, wo der veilchenblaue Wurzelhalsschnellkäfer wohnt und der zwiebeltragende Zahnwurz wächst. Plötzlich ruft ein Uhu von einer Baumkrone herunter. Als er seine Schwingen ausbreitet und davonfliegt, hört es sich an als würde jemand ein Bettlaken ausschütteln. Dann kehrt der Wald in sein leises Herbstknistern zurück. Es ist beruhigend und aufregend zugleich, wenn die Blätter aus den Kronen zu Boden rascheln, so als erzähle „Großmutter Wald" Geschichten von früher. Vom Vieh unter den Hutebäumen, von der Wolfsgrube am Dreiherrenstein oder vom Gestank der Kellerschuser Rauchhühner. Mit diesem Spitznamen neckten Einheimische die Köhler, die wochenlang im Wald arbeiteten und dort Holzkohle für die Erzschmelze glimmen ließen. Damals nannte man die Gegend „Hessisch Sibirien", weil sie 160 Kilometer von Darmstadt entfernt liegt und das Klima viel rauer war als in der damaligen Landeshauptstadt.
Früher hieß die Gegend „Hessisch Sibirien"
Der Kellerwald, dessen Name sich nicht von Keller sondern von „Köhler" ableitet, ist einer der letzten zusammenhängenden Buchenwälder in Deutschland und Weltnaturerbe. Darüber hinaus wurde er von der internationalen Vereinigung IUCN (International Union for Conservation of Nature) nach deren strengen Kriterien überprüft und zertifiziert. Hier sind nicht nur Hainbuche und Rotbuche heimisch, sondern auch seltene Farne, Fledermäuse und Feuersalamander. Wildkatzen und Waschbären streifen nachts durchs Gebüsch. In der Kernzone überlässt man die Natur sich selbst. Umgefallene Bäume werden nur aus dem Weg geräumt, wenn sie Menschen gefährden könnten. Dann verpasst Alexander dem Stumpf einen sogenannten Cocktailschnitt, damit sich im Totholz leichter Insekten und Moose ansiedeln können. Alexander war früher Waldarbeiter. Nun hat er eine Kehrtwende im Job gemacht. „Das war für mich unerledigte Arbeit", sagt er und zeigt auf einen umgestürzten Baum an dem der „ästige Stachelbart" wuchert wie ein Blumenkohl. „Jetzt freue ich mich, dass seltene Urwaldpilze daran wachsen." Auch in seiner Freizeit widmet er sich dem nachhaltigen Leben in der Natur.
In seinem Heimatort Altlotheim ist er am Aufbau einer Nutztierarche beteiligt, die selten gewordene Nutztierrassen wie Pekingenten oder Diepholzer Gänse züchtet. Üblicherweise schlachtet Alexander einmal im Jahr ein Schwein und stellt daraus „Ahlewurscht" her. Die hessische Traditionswurst hat heute Kultstatus. Es gibt sie in vielen Varianten: mit Knoblauch, Fenchel, Thymian oder Ingwer. Ihr sind Lieder, Gedichte und Blogs gewidmet. Klar, dass sie bei einer Wanderung ins Gepäck gehört. Denn nicht an jeder Wegkreuzung wartet eine Einkehrmöglichkeit. Tagelang kann man auf dem 155 Kilometer langen Kellerwaldsteig oder dem halb so langen Urwaldsteig wandern und kommt dabei selten an einer Straße vorbei. Man läuft auf breiten Wegen oder auf verwunschenen Pfaden hügelauf und hügelab. Kaum eine Menschenseele ist zu sehen. Stattdessen hört man das Laub knistern und einen Hirschen rülpsen. Während der Brunst verteidigt er mit dem Geräusch seine Weibchen. Immer wieder öffnet der Wald seinen Vorhang und gibt den Blick auf den Edersee frei, der sich am nördlichen Rand des Nationalparks windet. Wer abends an seinem Ufer steht, kommt sich vor wie in der kanadischen Wildnis. Das Wasser ist glatt wie ein Spiegel. Aus der Dunkelheit dringt das Geheul von Wölfen aus dem Tierpark herüber. Auf der gegenüberliegenden Seite glimmt nur eine handvoll Lichter.
Ungewöhnlich ist der lange Weg vom Ufer zum See: 50 Meter geht es über schlammigen Boden bis zum Wasser. „An der Nordsee gibt es zweimal am Tag Ebbe. Wir haben das einmal im Jahr", lacht Michaela Wiesemann-Siebert, die gemeinsam mit Mann und Sohn ein kleines Hotel am Waldrand führt. In seinem „Guten-Morgen-Blatt" informiert das sympathische Ehepaar nicht nur über mögliche Aktivitäten und das Wetter, sondern auch über den Pegelstand des Sees. Im Herbst führt er oft ein Drittel weniger Wasser als im Sommer. An einigen Stellen ist er gänzlich leer. Große Mengen Wasser werden in die Weser und in den Mittellandkanal abgelassen, um die beiden Flüsse schiffbar zu halten. Wiesemann zeigt auf die Fotos im Flur: „Für den Bau des Stausees vor knapp 100 Jahren hat man drei Dörfer samt Einwohner evakuiert."
200 Jahre alte Buchen
Manche Tourismusbetriebe ärgert der halbvolle See, andere entwickeln daraus neue Programme wie das Wattwandern im Edersee. Rita Wilhelmi führt Besucher mit wetterfester Kleidung auf den Seegrund. Unter den Gummistiefeln quatscht der Schlick. Sie zeigt auf Pflanzen, die nur jetzt hier wachsen wie Gilb- und Blutweiderich, Zweizahn und Schlammling. Später verteilt sie historische Lagepläne von Alt-Asel, eine der versunkenen Städte, deren Häuserreste es zu finden gilt. Wer Glück hat, sieht bei Alt-Berich auch ein Modell der Sperrmauer, das einst auf dem Seegrund gebaut wurde. Es fällt nur etwa alle zehn Jahre trocken. Die Austrocknung hat auch kulinarische Vorteile: „Der Fisch schmeckt danach besser, weil sich das Wasser regeneriert hat", sagt Wilfried Siebert. In der Küche bereitet er gemeinsam mit dem Sohn Barsch und Zander für die Gäste zu. In der Freizeit wandert die Familie gern durch den Kellerwald. Besonders mögen sie den Quernstgrund bei Frankenau. Auf einer kleinen Anhöhe blickt man weit über die bewaldeten Hügel. In vorchristlicher Zeit soll hier eine heidnische Kultstelle gewesen sein und im Zuge der Christianisierung entstand dort eine der ersten Kirchen. Heute erinnert eine kleine Kapelle an diese Zeit. Davor grasen ein paar fotogene Heidschnucken, sie verhindern die Zuwucherung des Hügels.
Der Quernstweg und die Dreiherrenstein-Route verlaufen entlang jahrhundertealter Grenzsteine. Einst trafen hier die Territorien Hessen-Darmstadt, Hessen-Kassel und Waldeck aufeinander. Die damals üblichen „Schnadezüge" sind heute noch feuchtfröhlicher Brauchtum in der Region. Dabei hat man junge Leute mit dem Allerwertesten dreimal auf den Gemarkungsstein gestupst, damit sie ihre Grenzen kannten. Folgt man dem Weg weiter, stößt man auf den ältesten Teil des Kellerwaldes. Das Gebiet „Ruhlauber" war 1990 das erste Naturschutzgebiet Hessens. Hier ragen 200 Jahre alte Buchen mit gewaltigen Kronen in den Himmel. Womöglich lassen sie noch in hundert Jahren im Herbst ihre rot gefärbten Blätter knistern.