Von Robin Hood über Ferdinand Lassalle bis hin zu Papst Franziskus – den Kapitalismus haben sie alle kritisiert. Ein Vorwurf lautet: Wir dürfen dem Markt nicht alles erlauben, was der Markt tut. Ute Frevert, Historikerin für Neuere Geschichte, fragt nach den Werten.
Gibt es so etwas wie moralischen Kapitalismus? Oder ist Moral nur ein Deckmäntelchen für ein System, in dem die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden? So jedenfalls schätzen 60 Prozent der Deutschen den Kapitalismus ein. Die meisten Ökonomen sind sich darüber einig, dass er das effektivste und innovativste Wirtschaftssystem ist. Aber er war – so Ute Frevert – von Anfang an umstritten. Weil er den zeitgenössischen Moralvorstellungen widersprach, die Arbeitskraft zur Ware machte, die menschlichen Beziehungen dem Markt unterordnete und alles dem Spiel von Angebot und Nachfrage unterwarf. Aber gerade darin, dass er die Kritik herausforderte, lag seine Stärke, argumentiert die Historikerin. Selbsthilfevereine, Wohnungsbaugenossenschaften, Konsumvereine, Gewerkschaften, schließlich der Sozialstaat – all das sind Reaktionen auf Auswüchse des Kapitalismus. Moral bildet gegen das zügellose Kapital die „kritische Antriebskraft und Korrekturquelle". Nur so habe dieses System überlebt – und bis heute enden die Versuche nicht, Markt und Moral zu versöhnen.
Frau Frevert, der Kapitalismus ist als Feindbild wieder da, jetzt steht er von allen Seiten in der Kritik, selbst Papst Franziskus verurteilt seine Auswirkungen. Woher kommt das neu erwachte Interesse an der Kapitalismus-Schelte?
Die Finanzkrise von 2007/08 und der drohende Melt-down (Kernschmelze; Anm. d. Red.) spielen dafür sicher eine entscheidende Rolle. In doppelter Hinsicht: Zum einen fragten und fragen sich viele Bürgerinnen und Bürger, wie ein System so außer Rand und Band geraten konnte, welche Destruktionskräfte es freisetzt, ohne dass diesen intern oder extern Einhalt geboten würde. Zum anderen stand und steht der Staat in der Kritik: Anstatt Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns festzulegen und die Einhaltung zu kontrollieren, zieht er sich zurück, vertraut auf das „freie Spiel der Marktkräfte" – und steht doch bereit, die verzockten Banken zu retten, mit Milliarden von Steuergeldern.
Sie haben sich lange mit der Geschichte der Gefühle beschäftigt. Sind Gefühle eine gute Voraussetzung, um den Kapitalismus zu durchschauen?
Um im Bild zu bleiben: Der Umgang mit und die Deutung der Finanzkrise waren stark von Gefühlen geprägt. Hinter den Strukturen identifizierte man die „Gier" der Banker, ihre moralische Rücksichtslosigkeit, nach dem Eklat dann ihre Flucht aus der Verantwortung. Und später, als sie ihre Schäfchen wieder im Trockenen hatten, das dreiste „Weiter so, nach uns die Sintflut". Dass Einzelne so denken und fühlen, ist eine Sache. Eine andere ist es, wenn das gesamte System so konstruiert ist, dass es solche emotionalen Dispositionen prämiert.
Alle menschlichen Beziehungen werden zu Warenbeziehungen, wie es im „Kommunistischen Manifest" heißt. Können Sie da noch von einem moralischen Kapitalismus sprechen?
„Moralischer Kapitalismus" – das ist ja keine Zustandsdiagnose, sondern ein Zukunftsappell. Vom Papst bis zu Bernie Sanders, vom (verstorbenen) Krupp-Manager Berthold Beitz bis zum (ebenfalls verstorbenen) Soziologen Ralf Dahrendorf hat man sich Gedanken darüber gemacht, wie der Kapitalismus – an sich ein moralfreies System des Wirtschaftens – an die moralische Kandare genommen werden kann. Ohne den Begriff zu verwenden, haben das im Übrigen schon die frühen Kritiker des Kapitalismus getan, von Robert Owen, dem Vater der Genossenschaftsbewegung, bis zu den Frauenvereinen, die sich im 19. Jahrhundert darum bemühten, Kinder und Frauen vor dem unmittelbaren Zugriff kapitalistischer Wirtschaftsbeziehungen zu schützen. Wer diese Gegenkräfte nicht zur Kenntnis nimmt oder unterschätzt, verkennt die Macht, die sie hatten und haben. Ihre moralgetriebene Kritik, vor allem aber ihr moralgetriebenes Gegenhandeln hat den Kapitalismus verändert, zu Veränderungen gezwungen.
Großinvestoren wie Black Rock dominieren heute die Finanzmärke und schieben viele Milliarden global hin und her. Welche Rolle spielt da noch der einzelne Kapitalist? Gibt es „den" Kapitalisten überhaupt (noch)?
Selbstverständlich gibt es ihn, und es ist einer der beliebten Mythen unserer Zeit, dass es ihn nicht gäbe. „Das System" scheint übermächtig und nehme, heißt es, den Einzelnen in seinen Dienst. Das ist bequemer Konformismus. Fakt ist, dass jeder und jede die Wahl hat. Als Kapitalist ebenso wie als Antikapitalist. Und daraus Konsequenzen ziehen muss …
Kapitalismus ohne Wachstum gibt es nicht, sagen viele Ökonomen. Da gibt es keine Alternative. Muss eine solche Wirtschaftsordnung sich nicht doch am Ende über alle Einschränkungen hinwegsetzen?
Tja, da fragt man sich doch, wie Wachstum eigentlich gemessen wird. Es gibt da ja verschiedene Indikatoren. Und je nachdem, welchen man hinzuzieht, sieht das „Bild" des Kapitalismus anders aus.
Sie sprechen von der Fähigkeit des Kapitalismus, mit Kritik und Widerspruch umzugehen – aber funktioniert das noch angesichts der drohenden Klimakatastrophe?
Selbst damit könnte ein „moralisch informierter" Kapitalismus kreativ umgehen, da habe ich gar keinen Zweifel. Denn auch Moral lässt sich in Profitmargen übersetzen. Wenn es sich bei den Konsumenten auszahlt, auf Klimaschutz zu setzen, werden Unternehmen das tun. Aber was tun die Konsumenten, was tut der Staat, der ihre Konsumentscheidungen lenken kann? Die einen leugnen den menschengemachten Klimawandel, die anderen delegieren die „Schuld" weiter und legen die Hände in den Schoß, die dritten üben sich in Selbstgerechtigkeit. Hier ist nicht „der Kapitalismus" gefragt, sondern die Politikfähigkeit mündiger Bürgerinnen und Bürger.
Leben wir heute überhaupt noch „im Kapitalismus" oder ist daraus nicht so eine Art Mischform geworden?
Ja sicher leben wir noch im Kapitalismus. Denn trotz aller Formwandlungen sind seine zentralen Elemente nach wie vor wirksam: Privatbesitz an Produktionsmitteln – wobei man darunter nicht mehr nur Fabriken, Maschinen oder Boden fasst, sondern auch alles, was zur Herstellung von Daten beiträgt –, freie Märkte und Wettbewerb sowie die Reinvestition von Kapital. Was wirklich neu ist an der heutigen Form: die Verwertung moralischer Imperative. Man kann jetzt auch damit Geld verdienen, dass man sich als moralischer Unternehmer und als moralisches Unternehmen verkauft – also als „klimaneutral", „nachhaltig produzierend", fair handelnd und so weiter. Auf diese Idee ist man im 19. Jahrhundert noch nicht gekommen. Der Kapitalismus wächst also an seinen moralischen Herausforderungen.