Arbeiten ohne Vorgesetzte: In einem Kollektivbetrieb entscheiden die Mitarbeiter gemeinsam über alle Fragen der Betriebsführung. Bei der Kaffeerösterei Flying Roasters ist man von dieser Arbeitsweise überzeugt.
Die Sonne ging bereits wieder auf, da tagte die kleine Runde immer noch. An diesem Morgen musste eine Entscheidung fallen, deshalb hatten die Mitglieder der Kaffeerösterei Flying Roasters die ganze Nacht hindurch diskutiert. Bereits seit 2014 existiert der Betrieb im Berliner Bezirk Wedding als Rösterei – nun, 2018, ergab sich auf einmal die Möglichkeit, in derselben Straße zusätzlich ein kleines Café zu eröffnen. Schon lange hatten die Flying Roasters mit dieser Option geliebäugelt, jetzt kam sie zu einem eigentlich ungünstigen Zeitpunkt. Wenngleich allen klar war, dass eine solche Gelegenheit so schnell nicht wieder kommen würde, hatten sie doch Respekt vor dem zusätzlichen Arbeitsaufwand und dem finanziellen Risiko. Hin und her wogte die Debatte, die Situation war angespannt. Doch man hatte keine andere Möglichkeit. Einen einzelnen Chef, der die Entscheidung im Alleingang hätte treffen können, gab es nicht.
Die Kaffeerösterei war von Anfang an als Kollektiv organisiert. „Kollektiv zu arbeiten, bedeutet für uns, dass wir solidarisch handeln und soziale Komponenten im Vordergrund stehen. Entscheidungen werden gemeinsam getroffen und Verantwortung wird geteilt. Wir arbeiten ohne Chef und zahlen den gleichen Lohn für alle", erklärt Nadine Heymann, eine der Gründerinnen. Das bedeute allerdings nicht, dass dort alle mit Blumen im Haar herumspringen würden. „Ein Kollektiv ist ein ganz normaler Betrieb, der einfach ein bisschen anders in seinen Entscheidungsstrukturen funktioniert", sagt Heymann.
Die Geschichte kollektiver und kooperativer Arbeit ist lang. Schon 1830 waren in England, dem Mutterland der Industrialisierung, die ersten Kommunen und Kooperativen entstanden, um die Möglichkeit eines selbstverwalteten Lebens und Wirtschaftens zu beweisen. In den 1970er-Jahren lebte der Gedanke auch hierzulande neu auf – als Alternative zum vorherrschenden Modell von Betrieben und Behörden mit autoritären Chefs und Hierarchien.
Sozialen Anspruch und hohe Qualität verbinden
„Natürlich müssen wir auch Geld erwirtschaften, um unsere Miete zu zahlen und unseren Lebensunterhalt zu bestreiten. So ganz können wir uns vom kapitalistischen System nicht freimachen", sagt Heymann. Gleichwohl versuche man, zumindest das ständige Konkurrenzdenken des Kapitalismus ein klein wenig auszuhebeln. Betriebsintern allein schon durch den Verzicht auf einen übergeordneten Boss – aber auch darüber hinaus durch Bündnisse mit anderen Unternehmen, die ganz ähnlich denken wie die Flying Roasters. „Wir setzen auf Gemeinschaft und darauf, Ressourcen und Potenziale zu bündeln und mit anderen zu teilen, damit Synergieeffekte entstehen und wir gemeinsam besser wirtschaften", sagt Oliver Klitsch, der ebenfalls schon von Anfang an dabei ist. So bezieht die Rösterei ihren – ausschließlich biozertifizierten – Rohkaffee, insgesamt 30 Tonnen pro Jahr, ohne Zwischenhändler direkt von den erzeugenden Kooperativen vor Ort, um so sicherzustellen, dass der eigene Anspruch an soziale Arbeitsbedingungen von Anbau und Ernte bis hin zur Röstung in Berlin erfüllt wird. Zudem ist das Unternehmen unter anderem im Netzwerk der Direct-Trade-Röstereien (Roasters United) sowie in der Föderation gewerkschaftlicher Kollektivbetriebe engagiert. „Mit allem, was wir tun, erproben wir den Brückenschlag zwischen sozialem Anspruch und Qualität", sagt Oliver Klitsch.
Neben ihm und Nadine Heymann gehören aktuell auch noch Daniel Rindermann, Georg Ruhm sowie seit Kurzem Thao Dao zum Kollektiv. Einige Aufgaben teilen sich die fünf: Jeder muss beispielsweise Kaffee abpacken, auch der Onlineshop ist Gemeinschaftssache. Gleichzeitig gibt es aber auch bestimmte Aufgabenbereiche, um die sich nur eine Person kümmert, einfach weil sie darin die meiste Expertise besitzt. „Ein Rotationsprinzip, wo jeder irgendwann einmal jede Aufgabe übernimmt, gibt es bei uns im Unterschied zu anderen Kollektiven nicht. Wir vertrauen stattdessen auf das jeweilige Fachwissen", sagt Nadine Heymann. So bedient Oliver Klitsch den Röstautomaten; Daniel Rindermann ist Meister der „Latte Art"; Heymann selbst ist zuständig für die Qualitätskontrolle und die Auswahl neuer Kaffeesorten sowie für die Kontakte zu den Kooperativen. „Vom Röster weiß ich dagegen gerade einmal, wie er an- und ausgeht", sagt sie. Je länger die Bohnen geröstet werden, erklärt Oliver Klitsch, desto mehr Zucker werde karamellisiert und desto bitterer schmecke er. Heller Filterkaffee etwa werde für zwölf Minuten bei 200 Grad geröstet – der dunkelste Espresso im Sortiment benötigt dagegen schon 17 Minuten bei 217 Grad.
Dass es sich durch diese Arbeitsteilung in den einzelnen Bereichen dann doch ganz automatisch ergibt, dass ein Einzelner dort das letzte Wort hat, nimmt das Kollektiv in Kauf. „In solchen Einzelentscheidungen sind wir nicht völlig hierarchiefrei", sagt Nadine Heymann. Und Oliver Klitsch ergänzt: „Wir sind ein sehr pragmatisches Kollektiv, das meiner Meinung nach aber gerade deshalb so gut funktioniert."
Offiziell agiert das Unternehmen als GbR, als Gesellschaft bürgerlichen Rechts. In Deutschland ist die Organisation als Kollektiv keine anerkannte Rechtsform, weswegen sich die Flying Roasters selbst ein Betriebsstatut gegeben haben, in der diese Arbeitsweise verankert ist. „Es ist wichtig, dass man sich darüber Gedanken macht und auch schriftlich festhält, wie man zusammen arbeiten möchte und wie Entscheidungen getroffen werden", erklärt Nadine Heymann. Dabei sei die Vereinbarung einem normalen Arbeitsvertrag in einem Angestelltenverhältnis gar nicht so unähnlich.
Flache Hierarchien dienen als Vorbild
„Ein Kollektivbetrieb ist dabei immer auch Experiment und Kompromiss", meint Heymann. Der Kommunikationsaufwand sowie die Anforderungen an die soziale Kompetenz lägen höher als bei einem klassischen Angestelltenverhältnis, weil Entscheidungen nicht einfach vom Chef getroffen, sondern mit der gesamten Runde besprochen würden. Heymann selbst hat es bislang noch nie lange in einem solchen Angestelltenverhältnis ausgehalten. Sie sei einfach nicht der Typ für einen „9-to-5"-Job, bei dem einem alles vorgegeben wird. „Ich glaube, auf lange Sicht ist es der gesündere Weg, zu arbeiten, weil man dabei mehr auf die Bedürfnisse von einzelnen Menschen eingehen kann", sagt sie.
Nicht umsonst sind flachere Hierarchien inzwischen in vielen Firmen und nicht zuletzt in den meisten Start-ups gang und gäbe – wenngleich dann natürlich fast immer mit Chef. Theoretisch würde die kollektive Arbeitsweise auch in Unternehmen mit mehreren hundert Mitarbeitern funktionieren, ist Nadine Heymann überzeugt. Allerdings bräuchte es dort zum einen wohl doch größere Hierarchien mit demokratisch gewählten Vertretern für bestimmte Positionen, die den anderen gegenüber rechenschaftspflichtig sind, zum anderen ein noch stärkeres Expertentum. Das Rotationsprinzip, bei dem letztlich alle alles machen müssen, sei bei dieser Größenordnung erst Recht nicht mehr praktikabel.
Das Café haben die Flying Roasters im vergangenen Jahr übrigens eröffnet, es befindet sich direkt gegenüber. Es ist eine Art Showroom für die Kaffeekultur geworden, wo auch regelmäßig Workshops stattfinden und all jene Dinge verkauft werden, die für einen guten Kaffee benötigt werden. „Wenn wir rösten, haben wir ja eine bestimmte Idee, was für ein Kaffee dabei herauskommen soll. In unserem Café zeigen wir, wie der Kaffee schmecken soll und wie man ihn richtig zubereitet", sagt Nadine Heymann. Was für sie einen guten Kaffee ausmacht? Eine schöne Süße brauche das Getränk, meint sie, dazu eine gute Cremigkeit, alles in allem also eine gewisse Komplexität. Letztlich müsse es einfach Spaß machen, ihn zu trinken. Parallelen zur Arbeitsweise in der Rösterei sind dabei offensichtlich.