Laut des Deutschen Nierenzentrums leiden bis zu sechs Millionen Deutsche an einer Nierenschwäche – oft ohne es zu merken. Oberarzt Prof. Dr. med. Urban Sester erklärt im Interview, was eine Niereninsuffizienz genau ist, wie man sie behandelt und wie man ihr vorbeugen kann.
Prof. Dr. Sester, was ist die Aufgabe der Nieren?
Die Aufgabe der Niere ist das Gleichgewicht im Körper konstant zu halten, ganz grob gesagt. Sei es die Zusammensetzung der Blutsalze, sei es die Konzentration des Blutfarbstoffes, der den Sauerstoff transportiert, oder sei es der Blutdruck. Es ist also ein ganz wichtiges Regulations- und Entgiftungsorgan.
Wann spricht man von einer Nierenschwäche?
Von einer Nierenschwäche spricht man, wenn die Funktion der Niere nicht mehr so ist, wie sie es in der „normalen" Bevölkerung ist. Sie reinigt normalerweise etwa 100 Milliliter Blut pro Minute. Alles, was unter 90 Milliliter fällt, bezeichnet man als Nierenschwäche mit verschiedenen Graden, abhängig davon, wie viel Blut sie noch zu reinigen schafft. Kritisch wird es, wenn nur noch 60 oder sogar 45 Milliliter pro Minute gereinigt werden können. Deutliche Symptome treten auf, wenn nur noch 30 Milliliter oder sogar 15 Milliliter gereinigt werden.
Welche Symptome sind das?
Es sind verschiedene Symptome, je nachdem wie stark die Nierenschwäche ausgeprägt ist. Ein wichtiges Symptom ist, dass der Blutdruck nicht mehr gut reguliert ist, dass man also hohen Blutdruck bekommt, der dann zu Folgeschäden am ganzen Körper führen kann. Sollte die Nierenschwäche weiter fortgeschritten sein, kann es zu einer Störung im Kalzium-, Phosphat und Knochenhaushalt kommen. Das heißt, die Knochen können nicht mehr richtig aufgebaut werden, Kalzium und Phosphat wird stattdessen in den Gefäßen abgelagert. Das kann zu schweren Gefäßverkalkungen führen. Dass es zu keiner optimalen Entgiftung kommt, merkt man durch Abgeschlagenheit und Müdigkeit. Man hat gegebenenfalls auch Juckreiz und Übelkeit, wenn die Schwäche noch weiter voranschreitet.
Es gibt unterschiedliche Erkrankungen, die zu Nierenschwäche führen können. Welche sind das genau?
Die häufigste Ursache ist schlecht eingestellter Bluthochdruck. Jetzt denkt man sich: Huch, die Niere macht Bluthochdruck, der Bluthochdruck soll Nieren kaputtmachen? Ja, das ist die unheilige Allianz. Schlecht eingestellter Bluthochdruck verursacht über Gefäßschädigungen eine Schädigung der Niere. Und das wiederum kann dann den Bluthochdruck verstärken. Die andere, häufige Ursache ist eine schlecht eingestellte Zuckerkrankheit. Es gibt aber noch viele andere Ursachen, wie Autoimmunerkrankungen oder angeborene Erkrankungen, die auch dazu führen, dass die feine Architektur in der Niere zerstört wird und die Niere dadurch ihre Funktion einbüßt.
Es gibt das akute und das chronische Nierenversagen. Wie unterscheiden sich diese beiden voneinander?
Vom akuten Nierenversagen spricht man, wenn es irgendein Ereignis gab, das die Niere so stark stresst, dass sie plötzlich, von heute auf morgen, ihre Funktion deutlich einschränkt. Das sind zum Beispiel die typischen akuten Nierenversagen bei schwer kranken Patienten. Patienten zum Beispiel, die einen Autounfall hatten oder die eine schwere Entzündung – eine sogenannte Sepsis – haben. Solche Patienten können ausgeprägte Kreislaufprobleme bekommen, was dann wiederum die Nieren mit angreift. Das ist das, was wir im Akutkrankenhaus häufig sehen und daher hier auch behandeln.
Und das chronische Nierenversagen?
Die meisten nierenkranken Patienten leiden an chronischer Nierenschwäche. Das Versagen schreitet langsam voran, weil der Blutdruck oder die Zuckerkrankheit nicht gut eingestellt sind oder weil eine eigenständige Nierenerkrankung nicht erkannt wurde. Stück für Stück vernarbt die Niere und wird so immer kränker, immer arbeitsunfähiger. Dann haben die Patienten das Problem, dass die Nieren nicht mehr richtig entgiftet und die Gleichgewichte im Körper nicht mehr richtig aufrechterhalten werden können. Wir sprechen in einem solchen Fall von einem chronischen Nierenversagen.
Nicht selten ist es aber auch so, dass jemand bereits ein chronisches Nierenversagen hat und dann kommt ein akutes Ereignis dazu. Dann sprechen wir von einem „akut auf chronischen Nierenversagen". Vom akuten Nierenversagen kann man sich, wenn man rechtzeitig die notwendige Therapie erhält, auch wieder erholen. Es ist also reversibel. Das chronische Nierenversagen kann man nicht mehr oder nur noch zum Teil rückgängig machen, weil die Nieren bereits zu sehr vernarbt sind. Hier ist es unser Ziel als Nierenspezialisten das Weiter-Vernarben der Niere und damit auch das Voranschreiten der chronischen Nierenfunktionsverschlechterung zu verlangsamen oder gar zu verhindern.
Sechs Millionen Menschen in Deutschland leiden unter chronischem Nierenversagen. Warum ist diese Zahl so hoch?
Wir haben heute Labormöglichkeiten, mit denen wir die Nierenfunktion sehr genau abschätzen können. So kann man heute schon sehr früh erkennen, ob die Nieren noch ganz normal arbeiten oder ob eine beginnende Nierenschwäche vorliegt. Dadurch gehen natürlich die Zahlen hoch. Wir können heute schon leichte Nierenerkrankungen früh erkennen. Das heißt aber nicht, dass jemand mit einer leichten Nierenerkrankung morgen schon an die Dialyse muss. Er muss einfach nur regelmäßig zum Hausarzt gehen und regelmäßig seinen Blutdruck und den Blutzucker kontrollieren. Erst wenn die zuvor genannte Grenze von weniger als 45 Milliliter gefiltertes Blut überschritten ist, oder wenn eine Nierenerkrankung mit einer großen Eiweißausscheidung über den Urin verbunden ist, sollte man zum Spezialisten gehen. Aber viele Nierenerkrankungen sind in den Frühstadien gut über den Hausarzt zu behandeln.
Dazu kommt, dass wir natürlich eine deutlich älter werdende Gesellschaft sind. Und durch die physiologischen Alterungsprozesse sind im Alter natürlich auch die Nieren nicht mehr so gut. Im Alter haben wir ja auch mehr Herzschwächen, mehr Lungenerkrankungen oder auch mehr Demenzen. Das Schöne ist, dass wir durch die Medikamente, mit denen wir den Blutdruck und den Blutzucker gut kontrollieren und einstellen können sowie durch neue Immunsuppressiva das Voranschreiten von Nierenerkrankungen heute deutlich besser verlangsamen können.
Also stellt die Behandlung von chronischen Nierenerkrankungen heute kein Problem mehr dar?
Zumindest können wir vielen Patienten heute besser helfen als früher. Zwischenzeitlich sind die zwei oben genannten Grundprinzipien (gut kontrollierter Blutdruck und gut eingestellter Blutzucker) fest etablierte Praxis bei den Hausärzten und bei uns Nierenspezialisten. Es gab aber auch bei den selteneren immunologisch beziehungsweise genetisch bedingten Nierengrunderkrankungen erhebliche Fortschritte bei der Entwicklung von spezifischen Therapiestrategien. Diese erlauben es uns bei mehr und mehr Patienten eine individualisierte Therapie anzubieten, die an den patienteneigenen Ursachen der Nierenschädigung ansetzt.
Welche Therapieformen gibt es genau?
Am wichtigsten ist es, den Blutdruck mit Medikamenten einzustellen, die eine Nephroprotektion, also einen Nierenschutz, hervorrufen. Das sind spezielle Blutdruckmedikamente, die sehr gerne von Hausärzten, Internisten und Nephrologen verschrieben werden, nämlich die ACE-Hemmer oder auch AT1-Rezeptor-Antagonisten. Sie funktionieren direkt in der Niere und regulieren dort den Druck der im Nierenkörperchen (dem sogenannten Glomerulus) herrscht. Ein Teil des Blutes, welches durch die Niere fließt, wird in diesen Nierenkörperchen über einen hochspezialisierten Zellfilter abgepresst. Die Zellbestandteile des Blutes und die großen, wertvollen Eiweißmoleküle werden dabei zurückgehalten und gehen dem Köper nicht verloren. Hingegen werden ein Teil des Blutwassers und die darin enthaltenen Giftstoffe über diesen Nierenfilter abgepresst und können dann im Verlauf als Urin ausgeschieden werden. Ein zu hoher Druck in diesen Nierenkörperchen schädigt auf Dauer den Nierenfilter, führt zu dessen Vernarbungen und damit zur oben bereits genannten chronischen Nierenschwäche. Eine Absenkung dieses Druckes mit den speziell dafür geeigneten Blutdruckmedikamenten ist das Grundprinzip der Nephroprotektion.
Wie genau wird denn die chronische Nierenerkrankung diagnostiziert? Sie nannten vorhin schon Abgeschlagenheit als Symptom.
Abgeschlagenheit kann man im fortgeschrittenen Stadium beobachten, dann sind wir eigentlich zu spät dran. Wir erhoffen uns natürlich, dass man schon früher erkennt, dass jemand eine beginnende Nierenschwäche hat. Erkennen kann man sie einerseits durch den Urin. Man untersucht ihn auf Eiweiße, die da eigentlich nicht drin sein sollten. Eiweiß im Urin ist ein Warnsignal. Man misst auch die Nierenwerte im Blut und schaut, wie viele Stoffwechselprodukte darin enthalten sind, die eigentlich mit dem Urin ausgeschieden werden sollten. Im Vergleich zu früher können wir hier deutlich mehr Stoffwechselprodukte messen, was uns eine genauere Abschätzung der tatsächlichen Nierenfunktion erlaubt. Ganz neu ist die Möglichkeit, dass wir nicht nur die Dichtigkeit des Nierenfilters durch die Bestimmung der Eiweißmenge im Urin überprüfen können, sondern dass wir den dabei in den Nieren entstehenden Entzündungsstress mit neuen Urinmarkern nachweisen können. Je mehr Entzündung, desto höher ist die Vernarbungswahrscheinlichkeit und damit auch die Wahrscheinlichkeit des Voranschreitens einer Nierenschwäche. Wie wir dies zukünftig bei der Planung von therapeutischen Interventionen einsetzen können, muss aber noch in klinischen Studien untersucht werden.
Welche Folgen kann eine unbehandelte Nierenschwäche haben?
Das kann dazu führen, dass die Niere überhaupt nicht mehr arbeitet und man ein Nierenersatzverfahren einleiten muss.
Und das wäre dann entweder die Dialyse oder die Transplantation?
Genau. Es gibt drei Nierenersatzverfahren. Zwei Dialyseverfahren, einmal die Hämo-Dialyse, also Blutwäsche und andererseits die Dialyse durch das Bauchfell. Und das dritte wäre dann die Transplantation.
Durch das Bauchfell? Blutwäsche ist vermutlich jedem ein Begriff, aber was ist die Bauchfell-Dialyse?
Das Bauchfell hat eine sehr große Oberfläche, über die auch Stoffe ausgetauscht werden können. Die Patienten haben einen Katheter in der Bauchhöhle, über den sie immer wieder frische Dialysat-Flüssigkeit, also frische, korrekt zusammengesetzte Salzlösungen reinlaufen lassen. Die Giftstoffe aus dem Blut treten in diese Flüssigkeit über und das in der Bauchhöhle befindliche Wasser lässt man dann wieder über diesen Katheter ablaufen. Dadurch erreicht man ebenfalls eine Entgiftung. Das macht man mehrmals am Tag oder über Nacht mit einer Maschine, die während des Schlafes Wasser in den Bauch pumpt und es wieder herausnimmt.
Häufiger ist aber die Blutwäsche, oder?
Die Blutwäsche ist häufig, weil die Bauchfell-Dialyse sehr disziplinierte Patienten erfordert, die dieses Verfahren alleine zu Hause durchführen können und speziell dafür geschult werden müssen. Einfacher ist es natürlich, wenn man in die Dialyse-Praxis geht und dort die Blutwäsche macht. Aber mit der Bauchfell-Dialyse hat man mehr Freiheiten, ist flexibler. Wenn jemand geeignet ist, diese Form der Dialyse zu machen, empfehle ich zuerst immer diese.
Eine Transplantation ist vermutlich die seltenste Form?
Eine Nierentransplantation, das wissen wir von den großen Studien, ist eigentlich das beste Nierenersatzverfahren. Denn so müssen wir nicht mit Dialyse, Medikamenten und Diäten einzelne Aspekte der Nierenfunktion ersetzen. Die transplantierte Niere übernimmt die Aufgabe einer normalen gesunden Niere und das zu 100 Prozent. So wird die Ursprungssituation wieder einigermaßen hergestellt. „Einigermaßen" deshalb, weil man natürlich dauerhaft auf Medikamente angewiesen ist, damit die Niere nicht abgestoßen wird. Auch muss man unter ständiger ärztlicher Kontrolle bleiben. Aber langfristig hat man damit die besten Chancen. Eine Transplantation ist aber selten aufgrund des Organmangels.
Wie kann man einer Nierenschwäche vorbeugen?
Darauf achten, dass man keinen unkontrollierten Blutdruck hat. Eine normale gesunde Lebensführung, kein Übergewicht und regelmäßig die Blutfette kontrollieren. Damit kann man den klassischen, häufigen Nierenschwächen, nämlich der blutdruckbedingten und blutzuckerbedingten Nierenschwäche vorbeugen.