Viele Menschen kennen die Phasen im Leben, die in regelrechten seelischen Abwärtsspiralen oder gar in Erkrankungen münden. Was tun? Im besten Fall beschäftigt man sich mit den Hintergründen des Negativtrends, zieht aus den Ergebnissen Schlüsse und nutzt diese, um gestärkt aus der Krise hervorzukommen. Diese Eigenschaft nennt man Resilienz.
Der Frage, warum wer welche Fähigkeit hat, seine psychische Gesundheit wiederherzustellen oder aufrechtzuerhalten, geht das Deutsche Resilienz Zentrum (DRZ) nach, das in Kürze in die Leibniz Gemeinschaft aufgenommen wird. Leibniz gehört zu den vier wichtigsten Forschungseinrichtungen in Deutschland. Das wissenschaftlich eigenständige Forschungsinstitut erforscht diese Fähigkeit während oder nach stressvollen Lebensereignissen. Gegründet wurde es 2014, der Sitz ist in der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt Mainz. Am DRZ steht vor allem der Erwachsenen-Bereich im Fokus. Neurowissenschaftler, Mediziner, Psychologen und Sozialwissenschaftler arbeiten dort zusammen – und sie haben einiges zu tun.
Denn EU-weit leiden nach Angaben des Instituts jedes Jahr etwa 38 Prozent der Bürger an stressbedingten psychischen Störungen. Auf Deutschland heruntergerechnet sind das etwa 30 Millionen Bürger. Die wissenschaftliche Leitung der Geschäftsstelle des DRZ hat Dr. Donya Gilan inne. „Ich arbeite hauptsächlich im Bereich Forschungstransfer", erklärt sie. Dabei gehe es darum, die Erkenntnisse, die das Forschungsinstitut erlangt, an die Bevölkerung weiterzugeben.
Es gebe eine Reihe von Schutzfaktoren, die seit mehreren Jahrzehnten erforscht werden, etwa soziale Unterstützung und Selbstwirksamkeit. „Wir sind aber an den übergeordneten, den neurobiologischen Mechanismen, die gesunde Hirnfunktionen stabilisieren, interessiert", sagt sie. Diese werden in Längsschnittstudien untersucht, wobei bei den Testpersonen die Entwicklung der psychischen Gesundheit in Abhängigkeit ihrer individuellen Stressoren über einen längeren Zeitraum beobachtet wird. „Um in der Folge auch Aussagen machen zu können, welche Mechanismen in stressigen Phasen beispielsweise besonders positiv gewirkt haben."
Der eine könne eben sehr gut mit einer belastenden Lebenssituation zurechtkommen, während ein anderer psychische Probleme entwickelt habe. Das Geheimnis zu ergründen, was Menschen befähigt, unbeschadet Krisen zu meistern und sogar daran zu wachsen, zu ergründen, ist Ziel des DRZ. Resilienz als Konzept der Gesundheitsförderung setzt zeitlich vor der Prävention von psychischen Erkrankungen ein, bereits zu einem Zeitpunkt, bei dem die Person merkt: Ich bin gestresst. Ich komme in Ungleichgewicht, mir fehlen Ressourcen.
Mittleres Maß an Stress ist positiv
Stressassoziierte seelische Erkrankungen wie Ängste, Depression und Süchte oder auch körperliche Krankheiten wie die Hypertonie können dabei die Folge sein. Vor allem wenn dieser Zustand nicht rechtzeitig erkannt wird und negative Bewältigungsstrategien wie Vernachlässigung von Regeneration, Alkohol- und Drogenkonsum oder Verdrängung erfolgt. Die wissenschaftliche Leiterin erklärt: „Anfällig für psychische Erkrankungen können Menschen sein, bei denen eine gewisse Vulnerabilität vorliegt und eine Häufung von Stressoren vorhanden ist." Doch nicht alle Menschen, die ungünstigen Lebensbedingungen ausgesetzt sind, würden eine Erkrankung entwickeln. Denn die Art und Weise, wie der Stress bewältigt wird, variiert sehr stark – es zeigen sich also Unterschiede in der Resilienz.
Resilienzförderung soll durch die Stärkung von Ressourcen eines Menschen zu einem frühen Zeitpunkt die Entwicklung stressbedingter Erkrankungen verhindern, damit chronische Zustände wie ein Erschöpfungssyndrom, das Burn-out, gar nicht erst entstehen. „Ein mittleres Maß an Stress, das hat die Forschung gezeigt, ist positiv für die Entwicklung des Menschen." Die Wissenschaft spricht dann von Eustress. „Das energetisiert und fördert die Persönlichkeitsentwicklung, weil man sich Herausforderungen stellen muss und sich dadurch in seiner Stressbewältigungsfähigkeit entfaltet." Kritisch wird es, wenn es keine Entspannungsphasen mehr gebe. „Dann ist die Gefahr groß, dass man in einen chronischen Stresszustand abrutscht, der mit körperlichen und emotionalen Erschöpfungssymptomen wie Schlafstörungen, Reizbarkeit oder Hoffnungslosigkeit einhergeht."
Die Stressoren sind zum Beispiel am Arbeitsplatz zu finden: Überstunden machen, immer mehr in immer kürzerer Zeit leisten, Schichtdienst, monotone Arbeitsabläufe, geringer werdender sozialer Rückhalt. Wissenschaftlich sei zudem festgestellt worden, dass in der Stadt lebende Menschen einem höheren Risiko unterliegen, an psychischen Erkrankungen zu leiden. Gründe hierfür sind unter anderem strukturelle Aspekte wie Verkehr und Lärm, aber auch Anonymität trotz extremer Dichte. Urbanisierung stellt allerdings nur einen Bereich des gesellschaftlichen Wandels dar, hinzu kommen noch Migration, Digitalisierung oder Technisierung.
Frühwarnzeichen, die auf die Gefahr einer nahenden psychischen Erkrankung hindeuten, zeigen sich auf verschiedenen Ebenen. Dazu zählen psychosomatische Symptome, also beispielsweise Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit, Nackenbeschwerden. Andere Menschen wiederum zeigen Anzeichen einer Stressreaktion auf gedanklicher Ebene. „Sie grübeln extrem, entwickeln Symptome wie Angst oder isolieren sich sozial, weil sie zu stark erschöpft sind. Sie entwickeln eine gefühllose, ablehnende Haltung gegenüber ihrer Umwelt, die als Depersonalisation bezeichnet wird." Die psychische Dysbalance geht unabwendbar mit einer Leistungsminderung am Arbeitsplatz einher.
Die Verhaltensregulation ist ein zentrales Thema der Resilienzforschung. Schlicht gesagt: Wie geht man mit dem Stress um? „Stress an sich ist nicht vermeidbar", erklärt sie. „Aber die Herangehensweise, insbesondere die Einstellung und die Wahrnehmungsmechanismen, sind das, worauf wir uns fokussieren. Wie ich den Stress einschätze und welche Bedeutung ich ihm beimesse, führt entweder zu sehr starken Stressreaktionen oder dazu, dass man gelassener mit ihm umgeht. In der neurowissenschaftlichen Forschung hat man herausgefunden, dass Menschen, die sehr flexibel im Denken und Handeln sind, resiliente Reaktionen in stressvollen Lebensphasen zeigen."
Hier kommen nun Programme des Deutschen Resilienz Zentrums ins Spiel. Denn einerseits bietet das DRZ Serviceleistungen an, die von den wissenschaftlichen Arbeitsgruppen und Forschungsplattformen erarbeitet werden. Auf der anderen Seite stehen wissenschaftsbasierte Dienstleistungen in Form von Vorträgen und Workshops zur Verfügung. Die wenden sich an diverse Berufsgruppen, etwa Führungskräfte oder Lehrer. Darüber hinaus entwickelt das DRZ auch zielgruppenspezifische Programme, etwa für Arbeitssuchende oder für die Arbeit in der Pflege.
„Was diese Programme alle gemein haben, ist, dass man erst einmal versucht, mit den Teilnehmenden zu untersuchen, welche Stresssituationen sie erfahren." Erkennen sie ihre Belastung überhaupt? Dann betrachtet man, auf welcher Ebene sich Stressreaktionen zeigen: auf gedanklicher und kognitiver Ebene oder auf emotionaler oder körperlicher Ebene. Je nach Reaktion gibt es eine Fülle von Möglichkeiten, Ressourcen aufzubauen, um mit Veränderungsprozessen gut umgehen zu können. „Viele Ansätze stammen aus psychotherapeutischen Schulen. Etwa aus der Akzeptanz- und Commitment-Therapie, der Problemlösetherapie und ganz zentral auch aus der kognitiven Verhaltenstherapie. Weitere Ansätze entstammen aus achtsamkeitsbasierten Programmen oder aus Trainings aus der Aufmerksamkeits- und Interpretationstherapie."
„Die psychische Entwicklung ist genauso wichtig wie die körperliche"
Zuerst wird bei den Veranstaltungen das Konzept der Resilienz und ihre historische Entwicklung erklärt. Ein Methodenmix aus theoretischem Input, interaktiven Übungen und Selbstreflexionseinheiten sowie Gruppenarbeiten führt an die in der Forschung identifizierten Resilienzfaktoren und -mechanismen heran und zeigt Möglichkeiten auf, wie diese trainiert werden können. Dabei setzen sich die Teilnehmenden mit ihren persönlichen Stressoren auseinander. Am Ende werden Strategien erlernt, wie man mit diesen besser umgehen kann. Aktuell werden diese Programme von unterschiedlichen Organisationen genutzt. Langfristig soll auch eine Resilienz-Ambulanz installiert werden, die eine Anlaufstelle für den „Normalbürger" darstellt. Darüber hinaus gibt es noch die „Mainzer Resilienz Gespräche", die sich an die Allgemeinbevölkerung richten. Forscher stellen hier ihre aktuelle Ergebnisse zum Thema vor und diskutieren mit dem Publikum.
Die wissenschaftliche Leiterin der Geschäftsstelle des DRZ, die auch in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Mainz tätig ist, sieht in ihrer Arbeit eine schöne Mischung aus Gesundheits- und Krankheitsforschung. „Ich finde es sehr interessant, das ganze Gesundheits-Krankheits-Kontinuum zu beforschen. Eine dichotome Einteilung von Gesund-sein versus Kranksein gibt es in der Form nicht. Die Abstufungen sind eher fließend." Auch persönlich sei sie von dem Konzept überzeugt: „Natürlich wendet man die Dinge, die man lehrt und erforscht, auch bei sich selbst an. Man möchte wissen: Wirkt das tatsächlich?"
Sie empfindet die Vermittlung von Strategien zu einem funktionalen Umgang mit persönlichen Krisen als enorm wichtiges Thema, das auch an Schulen und Kindergärten gehöre. „Die psychische Entwicklung ist genauso wichtig wie die körperliche." Doch leider gebe es noch immer ein großes Stigma in Bezug auf psychische Erkrankungen. Man müsse weiter an der Enttabuisierung arbeiten.
Mit der Forschung sei man nicht auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe fokussiert. Vielmehr wolle man die ausgewerteten Ergebnisse der Langzeitstudien nach und nach in Interventions-Programme für die Bevölkerung einfließen lassen. „In dem Dschungel der Möglichkeiten zur Stressbewältigung fehlt die Linie, was tatsächlich wirksam ist. Unser Ziel ist es, evidenzbasierte Programme, die auf neuropsychologischer Forschung fußen und auch strukturelle Rahmenbedingungen nicht außer Acht lassen, zu entwickeln, und damit einen Beitrag zur Reduktion psychischer Erkrankungen zu leisten." Erste bevölkerungsrelevante Ergebnisse sollen in Kürze veröffentlicht werden.