Ob Nato oder Russland: Frankreichs Präsident sorgt in Berlin für Irritationen
Von Emmanuel Macron heißt es, dass er nur vier Stunden Schlaf pro Nacht brauche. Frankreichs Präsident ist ein Getriebener. Die ewige Kompromiss-Maschine des politischen Betriebs ist ihm ein Graus. Macron denkt groß. Er will inspirieren, anfeuern, anschieben. Seine Mission: Europa weltpolitikfähig machen und als Wirtschaftsraum zwischen den USA und China zur eigenen Kraft aufbauen. In einer Welt, in der internationale Regeln zerbröseln und zunehmend Großmächte und Autokraten das Geschehen diktieren, soll die EU neue Strahlkraft gewinnen.
Der 41-jährige Staatschef forciert das Tempo. Dass er aneckt und auch Porzellan zerschlägt, stört ihn nicht im Geringsten. Im Abendrot der Ära von Kanzlerin Angela Merkel (CDU), in der die deutsche Außenpolitik von einem Machtvakuum gelähmt wird, versteht sich Macron als Schrittmacher. Aus seiner Sicht sind die Dinge klar: Er führt, und Frankreich ist die Lokomotive Europas. Die Rolle des Tabubrechers scheint ihm dabei wie auf den Leib geschnitten.
Macrons jüngster Vorstoß illustriert dies. Seine Diagnose, dass die Nato „hirntot" sei, hat in Berlin heftige Irritationen ausgelöst. Zwar sei seine Kritik an den USA berechtigt, das sich ohne Abstimmung mit den Bündnispartnern aus Nordsyrien zurückgezogen habe. Das Gleiche gelte für den Natopartner Türkei, der eigenmächtig einen Feldzug gegen die Kurden führe. Mit seiner schrillen Warnung, dass US-Präsident Donald Trump der Nato den Rücken kehren könne, gehe der Franzose jedoch zu weit, heißt es in der Bundesregierung.
Im Kanzleramt wie im Außenministerium wächst die Sorge, dass Macrons Schlussfolgerung das Fundament der EU untergraben könnte. Dessen Forderung nach strategischer Autonomie Europas, nach einer eigenen Armee und Militärkapazität stößt viele – wegen der amerikaskeptischen Stoßrichtung – vor den Kopf.
Merkel widersprach Macron postwendend. „Die Nato ist in unserem Interesse, sie ist unser Sicherheitsbündnis", entgegnete die Kanzlerin. „Ohne die Vereinigten Staaten sind weder Deutschland noch Europa imstande, sich wirkungsvoll zu schützen", betonte Außenminister Heiko Maas (SPD).
In der Bundesregierung ist man alarmiert. Zum einen grassiert die Befürchtung, dass sich zwischen Paris und Berlin ein tief greifender strategischer Dissens anbahnt: Macrons Europa-Fokus versus – trotz aller Unzufriedenheit mit Trump – das Konzept der transatlantischen Partnerschaft mit den USA. Verstörend wirkt vor allem auch Macrons vorpreschende Art, sein „disruptiver Stil". In Regierungskreisen wird von einem „intellektuellen Trumpismus" gemunkelt. Frankreichs Präsident gehe zwar nicht so grobschlächtig vor wie sein amerikanischer Amtskollege, er betreibe auch keine hyperventilatorische Twitter-Kommunikation à la Trump. Doch auch Macron liebe den Parforceritt gegen den Konsens und die Attacke auf die Komfortzone.
Das trifft auch auf die EU-Erweiterung zu. Deutschland fördert eine Aufnahme reformfähiger osteuropäischer Länder – auch, um sie nicht in die Arme von Russland, China oder der Türkei zu treiben. Frankreich baut hingegen auf Begrenzung. Lieber ein politisch und wirtschaftlich starkes Kerneuropa, als eine von Zentrifugalkräften gelähmte Rumpel-EU.
Auch mit Blick auf Russland geht Macron eigene Wege. Er sprach sich für eine „Annäherung" an Moskau aus. Europa müsse sein Verhältnis zum östlichen Nachbarn „neu besichtigen", heißt es in Paris. Der Westen habe nach dem Fall der Mauer 1989 zu lange am Feindbild Russland festgehalten. Die Kanzlerin, die ein tiefes Misstrauen mit Präsident Wladimir Putin verbindet, sieht das völlig anders.
Macron hatte seinen Brückenbauer-Kurs bereits im Sommer angedeutet. Im August empfing er Putin in seiner Mittelmeer-Residenz Fort Brégançon und warb für eine Neudefinition der Beziehungen. Möglicherweise stimmte Putin vor diesem Hintergrund einem Gipfel zur Lösung des Ukraine-Konflikts zu: Die Staats- und Regierungschefs aus Frankreich, Deutschland, Russland und der Ukraine treffen sich am 9. Dezember in Paris. Es ist eine Bühne wie gemacht für Macron. Hier kann er sich als Europas Chefdiplomat, Weltenlenker und Querdenker präsentieren. Ob die Pariser Viererrunde zu einem Durchbruch in der vertrackten Ukraine-Krise führt, ist allerdings eine völlig andere Frage.