Man stelle sich vor, jemand benutzt in einem Kaufhaus eine Toilette und hinterher erfährt er oder sie, dass eine in der Kloschüssel eingebaute Kamera den Po gefilmt hat. Wetten, dass die Betroffenen zu Recht vor Wut kochen und womöglich die Verantwortlichen für diese grenzüberschreitende Unverschämtheit verklagen würden?
Das Ganze ist rein hypothetisch, weist aber Parallelen auf zum „Upskirting"-Skandal um die verbauten Kameras in den Startblöcken, wie sie bei der Leichtathletik-WM in Doha erstmals eingesetzt wurden. Die sogenannten Upper Cameras filmten anfangs den Einstieg der Sportler und Sportlerinnen in den Block, und dabei war auch der Schritt der Athleten zu sehen.
Das Ansinnen des verantwortlichen Weltleichtathletikverbandes IAAF, die Anpannung in den Gesichtern der Athleten zeigen zu wollen, war gut gemeint, aber letztlich schlecht gemacht, denn keiner der Sportler war vorab über die Technikneuerung in den Startblöcken informiert worden. Jetzt muss man hinterfragen, ob wirklich etwas dran war an der Aussage, dass die Minikameras tatsächlich nur den intensivsten Moment kurz vor dem Rennen dokumentieren sollten, wie die Verantwortlichen beteuerten.
Denn viel gesehen haben die Fernsehzuschauer und Stadionbesucher ohnehin nicht: Da hingen mal einer Leichtathletin die Haare ins Gesicht, ein anderes Mal war eine herabhängende Kette zu sehen, und ein nacktes Bein blitzte hervor. Aber mal ehrlich: Einen intensiven Moment vor dem Start eines 100-Meter-Laufs stellt man sich anders vor. Etwa eine Athletin, die rasch noch ihren um den Hals gehängten Talisman küsst oder die inständig den lieben Gott anfleht, dass er machen soll, dass sie den Lauf gewinnt.
Doch anstatt die Aufregung oder gar die Angst vor einer möglichen Niederlage der Sportlerinnen zu offenbaren, dokumentierten die Startblock-Kameras nur hochkonzentrierte Gesichter.
Irgendwann bekamen ein paar Leichtathletinnen Wind von der unscheinbaren Linse, äußerten ihre Wut darüber in den sozialen Netzwerken, und der Weltleichtathletikverband musste mitten in der WM ein Problem aus der Welt schaffen. In den neuen Startblöcken wurden diese völlig überflüssigen Kameras zwar nicht abgeschafft, doch intime Bilder der Sportlerinnen wurden fortan keine mehr gezeigt. Das heißt: Der Moment, in dem die Profi-Sportlerinnen in den Startblock einstiegen, wurden nicht mehr live übertragen. Die Videodaten sollten nicht gespeichert, täglich sollte das Material gelöscht werden.
Nur eine Frage bleibt: Wir wissen, dass die Weltöffentlichkeit und die Live-Zuschauer im Stadion künftig keinen Einblick mehr in den Intimbereich erhalten. Aber können wir uns sicher sein, dass nicht schlüpfrige Videoaufzeichnungen in die Hände eines Po-Fetischisten gelangen, der sich an den Bildern ergötzt oder – weitaus unangenehmer – etwa auf einem entsprechenden Portal als Videosequenz oder Bilder eingestellt werden? Wer kann den Sportlerinnen hundertprozentig garantieren, dass das Videomaterial tatsächlich innerhalb von 24 Stunden gelöscht wurde? Denkbar ist auch, dass manch männlicher Zuschauer diese intime Einstellung ohne Empörung in Kauf genommen hätte und sich klammheimlich über die frei Haus übertragenen sexy Bilder der Öffentlich-Rechtlichen freut.
Mal im Ernst: Die Kritik und Wut der betroffenen Frauen bei der Leichtathletik-WM kam zum richtigen Zeitpunkt, wenn auch der Verband viel zu spät einen faden Kompromiss gefunden hat. Den beiden Leichtathletinnen Gina Lückenkemper und Tatjana Pinto gebührt Respekt, weil sie sich vor die Kamera gestellt haben und offen das ausgedrückt haben, was auch ihre Kolleginnen fühlten. Die 22-jährige Lückenkemper sagte, sie sei sicher, dass keine Frau an der Entwicklung der Kamera beteiligt gewesen war. Klar, warum auch. Wäre eine Frau gefragt worden, wäre niemals eine Kamera – allenfalls ein kleiner Spiegel – verbaut worden.
Man kann sich gut vorstellen, dass nun wohl einige ihrer vornehmlich männlichen Fans im Freundeskreis oder in der Stammtisch-Runde die Leichtathletinnen als prüde und verstockt diffamieren – Lückenkemper und Pinto kann das aber egal sein. Gäbe es tatsächlich Fans, die so denken, wäre ihnen zuzutrauen, dass sie heimlich Frauen unter Röcke, Kleider oder in den Ausschnitt fotografieren oder filmen.