Zeitgenossen verstörte er, die Nachwelt fasziniert er. Vincent van Gogh gilt als Wegbereiter der modernen Kunst. Im Frankfurter Städel Museum erzählt die hochkarätig bestückte Ausstellung „Making Van Gogh" von der „Geschichte einer deutschen Liebe".
Einen solchen Traum realisiert man nur einmal im Leben", da sind sich Alexander Eiling, der Kurator der „Making Van Gogh"-Schau im Frankfurter Städel und sein Vorgänger Felix Krämer einig. Denn 50 „schwergewichtige" Werke Vincent van Goghs in einer Schau zusammen mit 70 dazu in Beziehung stehenden Werken deutscher Maler zeigen zu können – das hat es wohl in dieser Form, Konzentration und Qualität bislang nicht gegeben. Zum ersten Mal sei damit „so viel van Gogh in Deutschland zu sehen wie zuletzt vor 1920" heißt es von den Ausstellungsmachern. Was bereits andeutet, welche Rolle Deutschland beziehungsweise die deutsche Sammlerszene des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts für die Entstehung des „Mythos van Gogh" gespielt hat.
Vor dem Ersten Weltkrieg befanden sich rund 100 Werke des 1853 geborenen niederländischen Künstlers im Besitz deutscher Privatsammler, viele Frauen seien darunter gewesen, erzählt Projektleiterin Elena Schroll, aber auch viele jüdische Sammler. Und es gab eine ganze Reihe von Ausstellungen – alle vor 1914 –, in deren Mittelpunkt Werke van Goghs standen. Gerade vor dem Hintergrund der lähmend wirkenden Atmosphäre im deutschen Kaiserreich wirkten die Bilder und Zeichnungen besonders expressiv, durch den scheinbar spontan und kühn „hingeworfenen" Pinselstrich und die manchmal in starkem Kontrast aufeinanderprallenden Farben. Das deutsche Bürgertum war interessiert und offen für neue künstlerische Ansätze und Konzepte, stürzte sich geradezu auf Vincent van Goghs Werke, die etwas Ungestümes, etwas Spontanes, mitunter Unbegreifliches verkörperten, was in starkem Kontrast zur Realität des Kaiserreichs stand. Aber was mitunter auch den Spott von Zeitgenossen herausforderte. Wie schrieb der Dichter Ferdinand Avenarius um 1910: „Überall van goghelt’s".
Begehrt bei deutschen Sammlern
Den Privatsammlern zu Beginn des 20. Jahrhunderts folgten die deutschen Museen auf den Fersen. Ein erster Van-Gogh-Ankauf durch ein Museum erfolgte 1903 durch das damalige Museum Folkwang in Hagen und 1908 erwarb der „Städelsche Museumsverein" das „Bauernhaus in Nuenen", das natürlich auch in der aktuellen Ausstellung gezeigt wird. Nicht mehr präsentieren kann das Städel hingegen eines der berühmtesten Werke van Goghs: das „Porträt des Dr. Gachet". Vincent van Gogh hatte zwei Gemälde mit dem gleichen Motiv wenige Wochen vor seinem Selbstmord gemalt und den ihn behandelnden Arzt dargestellt. Er pflegte zu ihm ein freundschaftliches Verhältnis, hielt ihn aber insgeheim für mindestens genauso krank und verzweifelt wie sich selbst.
Nach dem Tod des Malers gelangte die erste Version des Gemäldes in den Besitz seines Bruders, Theo van Gogh, dessen Witwe verkaufte es an eine dänische Sammlerin. Über mehrere Stationen gelangte das Werk 1912 in das Frankfurter Städel Museum, wurde allerdings 1937 als „entartete Kunst" beschlagnahmt und der Privatsammlung Hermann Görings einverleibt. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam das Gemälde in die USA, 1990 versteigerte Christie’s das Werk. Der Zuschlag ging an einen japanischen Unternehmer –
für einen Preis von 82,5 Millionen Euro. Seitdem ist diese erste Fassung des „Porträt des Dr. Gachet" nicht mehr öffentlich gezeigt worden.
Umso eindrucksvoller jetzt der leere goldverzierte Bilderrahmen in einem der Räume der „Making Van Gogh"- Schau. Dahinter ein überdimensionaler Schwarz-Weiß-Druck des Werks sowie eine ausführliche Beschreibung, der Vincent van Goghs Zitat von 1890 vorangestellt ist: „Jetzt arbeite ich an einem Porträt des Dr. Gachet. Sein Gesicht hat den schmerzlichen Ausdruck unserer Zeit."
Viereinhalb bis fünf Jahre habe die Vorbereitungszeit der Ausstellung in Anspruch genommen, erzählt Projektleiterin Elena Schroll. Vor allem wegen der zahlreichen internationalen Leihgaben, die allesamt Hauptwerke in ihren jeweiligen Sammlungen seien. So ist in Frankfurt am Main nun ein „Best of" zu sehen, das in drei Kapiteln von der Entstehung und Wirkung des „Mythos van Gogh" erzählt. Dabei geht es nicht nur um den Weitblick deutscher Sammler und Museen, die die Bedeutung van Goghs lange vor Museen in anderen Ländern erkannten. Sondern auch um die deutsche Künstleravantgarde des beginnenden 20. Jahrhunderts, die in vielerlei Hinsicht von dem Niederländer und seinem Werk beeinflusst wurde.
Einfluss auf andere Künstler
Wie ein Kleeblatt sind die drei Ausstellungskapitel mit ihren dreizehneinhalb Räumen angeordnet – und tragen die Überschriften „Mythos", „Wirkung" und „Malweise". Natürlich muss es da im ersten Bereich um die Biografie van Goghs gehen, aber vor allem um die Jahre nach seinem Tod 1890, als seine Schwägerin Johanna van Gogh-Bonger es zu ihrer Mission machte, das Werk Vincents zu promoten. Neben ihr gilt unter anderem auch der jüdische Kunsthändler, Verleger und Galerist Paul Cassirer als einer der „van Gogh-Agenten". Denn der in Berlin wirkende Cassirer zeigte von 1901 bis 1914 zehn Einzelausstellungen mit Werken Vincent van Goghs. Was erheblich zur Steigerung ihrer Bekanntheit und ihres Werts beitrug. Rund 80 der Van-Gogh-Werke, die sich vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland befanden, gingen durch Paul Cassirers Kunsthandel. Wanderausstellungen brachten Gemälde und Zeichnungen des Niederländers nach Hamburg, Dresden und Wien. Trotz der Faszination für die oft so farbgewaltigen, dynamisch wirkenden Bilder gab es aber auch empörte Gegenstimmen, die sich 1911 zu einem „Protest deutscher Künstler" vereinen sollten, der wiederum den sogenannten „Bremer Kunststreit" vom Zaun brach. Auch davon wird in der aktuellen Städel-Schau erzählt.
Wäre aber der „Mythos van Gogh" überhaupt entstanden, wenn sich nicht Autoren der Biografie des Malers angenommen, ihn darin zum tragischen Romanhelden stilisiert hätten? Der 1867 geborene Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe beispielsweise war einer der Gründer der Zeitschrift „Pan", schrieb mehrere Künstler-Monografien, galt als ein Experte für den Impressionismus. „Der Roman eines Gottsuchers", so nannte Meier-Graefe seine Van-Gogh-Biografie, in der er den Maler geradezu als Märtyrer idealisierte:
„Ja, diese Leidenschaft übertrifft den Verzicht gleich ausbrechenden Flammen, aber mischt sich mit Scherben, die sie zerbrach, und höher erhebt uns der Anblick des trophäenlosen Kämpfers, der durch ein mit Bitterkeit überfülltes Dasein bis an die äußersten Grenzen des Märtyrertums schritt, bis zuletzt demütig und ohne Klage."
Nicht verwunderlich, dass durch diese und andere Schriften über van Gogh das Bild des verkannten, gegen Widerstände anrennenden Genies ausgiebig kultiviert wurde. Das sorgte für erheblichen Eindruck bei der deutschen Künstleravantgarde. Die eigentlichen Einflüsse stellten für die deutschen Künstler die Motive des Niederländers, die Pinselführung, der Farbeinsatz, die so häufig benutzten Komplementärfarben dar. Van Gogh, so erzählt es Kurator Alexander Eiling bei der Ausstellungseröffnung im Frankfurter Städel, thematisierte in seinen Werken häufig „Szenen aus dem einfachen Leben", Bauern oder Arbeiter auf dem Feld, einfache Bauernhäuser wie das „Bauernhaus in der Provence" von 1888. Und hatte sich dabei selbst bei großen Vorbildern wie beispielsweise Jean-François Millet bedient, der wiederholt die harte bäuerliche Arbeitswelt („Die Ährenleserinnen") darstellte.
„Szenen aus dem einfachen Leben"
Zahlreiche deutsche Expressionisten ließen sich nun von van Goghs Darstellungen des „Traums vom einfachen Leben auf dem Lande" zu ähnlichen Motiven anregen. Paula Modersohn-Becker beispielsweise malte 1907 eine „Alte Armenhäuslerin mit Glaskugel und Mohnblumen". Mit ihrem blumengeschmückten Hut und der leuchtend roten Jacke scheint die Frauenfigur Teil der umgebenden mit Mohnblüten versetzten Wiese zu werden. Wilhelm Morgner, der zum Umfeld der Neuen Secession in Berlin und des Blauen Reiters in München zählte, griff ebenfalls Szenen ländlichen Lebens auf, mit seiner „Kartoffelernte", dem „Holzarbeiter" oder dem im Städel Museum ausgestellten „Der Baum" von 1911. Die Pinselführung bei diesem Gemälde erinnern deutlich an van Goghs Landschaften mit den scheinbar schwungvoll dahingeworfenen Pappeln oder Zypressen.
Der angeblich ausschließlich dem Impuls folgende Malprozess van Goghs habe kolossalen Eindruck gerade bei den Expressionisten hinterlassen, heißt es in den Begleittexten zur Frankfurter Schau. Allerdings sei das große Vorbild van Gogh weitaus weniger spontan ans Werk gegangen, als vielfach in Biografien behauptet. Im Gegenteil, sagt Elena Schroll vom Städel Museum. Vincent van Gogh hatte zwar eine Ausbildung in der Den Haager Filiale der Kunsthandlung Goupil & Cie absolviert, war aber Autodidakt, was das Zeichnen und Malen betraf, beschäftigte sich mit Farbtheorien und unterschiedlichsten Techniken. Und baute sich einen Perspektivrahmen, bei dem Drähte in einen hölzernen Rahmen gespannt wurden, ein Hilfsmittel für die Landschaftsmalerei. Denn beim Blick durch den Rahmen hatte man Teilstücke vor sich, die sich einzeln leichter malen ließen. Zum Beispiel beim 1887 entstandenen „Montmartre: Windmühlen und Kleingärten". Dass van Gogh, der von seinen Biografen als impulsives Naturtalent verklärt wurde, seine Gemälde so penibel plante und vorbereitete, ist nur eine von zahlreichen Entdeckungen, die sich in der Schau „Making Van Gogh" machen lassen.
Die Ausstellung „Making Van Gogh" ist noch bis zum 16. Februar im Frankfurter Städel Museum: www.staedelmuseum.de zu sehen. Bis 2. Februar läuft in Potsdam die Ausstellung „Van Gogh. Stillleben", www.museum-barberini.com