Andreas Diehl leidet seit Jahren an amyotropher Lateralsklerose (ALS). Die unheilbare Erkrankung führt zu Muskelschwund und zur vollständigen Lähmung des Körpers und schließlich zum Tod. Im Interview erklärt der 57-Jährige, warum Euthanasie für ihn nicht infrage kommt.
Herr Diehl, wie weit ist Ihre Erkrankung fortgeschritten?
Mein Zustand verschlechtert sich stetig aber langsam. Ich musste deswegen 2015 in Teilrente und zum 1. Januar 2018 in die Vollverrentung gehen. Ich muss im Schnitt 16 Stunden am Tag durch eine Beatmungsmaschine künstlich beatmet werden. Das bestimmt natürlich meinen Tagesablauf. Ich werde und wurde vom Palliativteam betreut. Dank der stärksten Medikamente, die ich bekomme, habe ich keine Schmerzen. Außerdem habe ich Medikamente, um zu schlafen. Neben der ALS habe ich noch massive andere Baustellen im Körper. So habe ich zum Beispiel in dieser Zeit zweimal eine Sepsis überlebt. Neben ständigen Darmentzündungen habe ich auch noch ein großes Aneurysma direkt hinter der Aortenklappe am Herzen. Dieses muss engmaschig überwacht werden, da es ziemlich groß geworden ist und jederzeit reißen kann.
Etwa acht Stunden am Tag, an denen ich nicht an der Beatmungsmaschine bin, verbringe ich damit, mit meinem Schäferhund um die Felder zu ziehen. Dank eines Elektrorollstuhls ist es mir möglich, so am Leben teilzuhaben, und der Hund freut sich über so viel Auslauf. Ansonsten verbringe ich viel Zeit im Internet, nehme geistig aktiv am politischen Geschehen teil und lese alle Nachrichtenmagazine und Tageszeitungen. Ein Hobby von mir ist es, alle Bundestags- und Landtagssitzungen komplett live im TV zu verfolgen. Ich habe auch beschlossen, auch mit der Erkrankung, mich politisch aktiv einzumischen und bin mit 56 Jahren das erste Mal in eine Partei (SPD) eingetreten. So konnte ich zum Beispiel meine Stimme für das neue Führungsduo abgeben. Unheimlich viel Aufwand erfordert es allerdings, die Krankheiten zu verwalten. Krankenkasse, Pflegekasse, Beatmungsfirma, Ersatzteile, Zubehör, Sauerstoff und, und, und … wollen gepflegt werden. Das ist ein täglicher Kampf und manchmal auch ein Krampf.
Wie wird der Verlauf der Erkrankung voraussichtlich sein?
Kein Arzt gibt da eine Prognose ab. Im Schnitt hat man noch drei bis fünf Jahre nach der Diagnose. Ich habe aber einen sehr langsamen Verlauf. Auch bin ich froh, nicht den bulbären Verlauf zu haben, der durch Sprachlosigkeit, nicht mehr schlucken können und eine schnelle Lähmung der Arme gekennzeichnet ist. Ich bin in einem Verein, der die Interessen der ALS-Kranken vertritt und diese auch unterstützt. Sei es finanziell oder mit Rat. Auch haben wir in den sozialen Medien Gruppen von ALS-Kranken, wo wir uns austauschen können. Oft erlebt man, dass man meint, der ist ja noch so weit „fit" und plötzlich kommt die Nachricht, dass er verstorben ist. Das schockt einen sehr, macht es doch auf die Endlichkeit des Daseins aufmerksam. Also hofft man, dass es so langsam weitergeht und dass es vielleicht noch gelingt, ein Medikament zu entwickeln, das die Lebenserwartung auf normal anhebt. So ähnlich wie bei Aids. Auch dort kann man mit Medikamenten fast eine normale Lebenserwartung erreichen.
Wie schaffen Sie es, das Ganze psychisch zu bewältigen?
Ich bin in psychologischer Betreuung. Meine Psychologin kommt dafür extra zu mir und macht die Behandlung in Form von Hausbesuchen. Ansonsten ist meine Frau, die mich pflegt, meine Stütze. Auch die täglichen Spazierfahrten mit dem Hund, der jede Veränderung sofort spürt und darauf reagiert, sind eine Hilfe. Und nebenbei habe ich angefangen, zu fotografieren. Ich sitze im Rollstuhl und sehe die Natur mit offenen Augen, und wenn mir etwas auffällt, wird es mit dem Handy aus dem Rollstuhl fotografiert. Die Bilder stelle ich auf eine extra Facebookseite und sie erfreuen sich einer regen Aufmerksamkeit. Und während ich die Bilder mache und dabei auf die Motive achte, gibt es in meinem Kopf keine Krankheit.
Könnten Sie sich vorstellen, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen?
Sterbehilfe direkt nein. Wichtig finde ich, alles vorab zu verfügen. Wie weit gehe ich mit. Lasse ich zum Beispiel zu, dass ich ein Tracheostoma gelegt bekomme und 24 Stunden über den Hals beatmet zu werden? Lasse ich es zu, eine PEG gelegt zu bekommen, um künstlich ernährt zu werden? Alles dies habe ich im Detail verfügt. In diesem Sinne kann ich bereits vorab bestimmen, wie lange ich mit dieser Erkrankung leben möchte. Ich für mich habe verfügt, dass ich alle technischen Mittel ausschöpfen werde. Also mit Halsbeatmung und notfalls künstlicher Ernährung. Und hier greift dann der Hospizdienst ein, um dieses für alle Seiten erträglich zu gestalten.
Könnten Sie sich vorstellen, dass Sie mal an einen Punkt kommen, an dem Sie sich Sterbehilfe wünschen könnten?
Da die ALS nicht das normale Denken einschränkt, wie zum Beispiel bei Stephen Hawking, glaube ich nicht, dass ich an den Punkt komme, an dem ich sage, jetzt will ich Sterbehilfe. Bei mir hat sich das Geistige und Körperliche getrennt. Geistig bin ich voll fit und nehme mit diesem Geist am Leben teil. Und das ist für mich das eigentliche Leben. Der Rest, der Körper ist im Eimer. Vergleichen Sie es mit einem alten Auto. Die Karosserie ist nicht mehr viel, aber der Motor ist im Top-Zustand. So sehe ich mich.
Wie stehen Sie allgemein zur Sterbehilfe?
Ich lehne Sterbehilfe nicht ab. Wie bereits erwähnt sollte man, wenn man von einer tödlich verlaufenden Krankheit betroffen ist, rechtzeitig alles niederschreiben. Ich habe es selbst in der Familie miterlebt, dass der Schwiegervater vorher alles genauestens verfügt hatte. So gab es im Krankenhaus keinerlei Probleme, und er konnte so aus dem Leben treten, wie er sich das für diesen Fall gewünscht hatte. Ich kannte aber auch Fälle von ALS-Kranken, die in die Schweiz gefahren sind, um über Dignitas Sterbehilfe zu bekommen. Ich respektiere das. Bin aber der Meinung, dass man dafür heute nicht in die Schweiz fahren muss.
Wie geht es Ihnen, wenn Sie an das denken, was noch auf Sie zukommt?
Ich bin mit mir und der Krankheit im Reinen. So weit alles rundherum stimmt, Familie, Krankenkasse, Pflege und so weiter, komme ich sehr gut klar und kann sogar das Leben genießen. Es ist natürlich ein sehr schmaler Pfad. Selbst kleinste Veränderungen und Probleme können einen massiv aus der Bahn werfen. Dann merkt man, dass man überhaupt nicht mehr belastbar ist. So sind zum Beispiel Ansprüche laut Gesetz vorhanden, jedoch muss um jedes Kleinste erbittert gekämpft werden. Oder auch nur, wenn zum Beispiel was an Ersatzmaterial nicht oder falsch geliefert wird. Da kommt schnell Panik auf, da ja das Leben damit zusammenhängt. Nur machen Sie das mal einem jungen Sachbearbeiter am Telefon klar. Also ein ständiger Kampf, auf diesem schmalen Pfad zu bleiben, um das Restleben genießen zu können.