Warum ist rechtsextremistisches Gedankengut in Ostdeutschland so weit verbreitet? Für Soziologe Alexander Yendell hat das nichts mit der ökonomischen Lage zu tun, sondern mit autoritären Einstellungsmustern. Er ist Vorstandsmitglied des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung an der Universität Leipzig.
Herr Yendell, was sind die Ursachen für das Erstarken des Rechtsextremismus?
Die Analyse von Bevölkerungsdaten zeigt, dass es zwischen 2014 und 2016 in Deutschland eine Polarisierung und eine Radikalisierung gegeben hat. Leute, die rechtsextrem sind, wählen jetzt die AfD und nicht mehr wie früher CDU und SPD. Das hat sehr viel mit der sogenannten Flüchtlingskrise zu tun, die ihren Höhepunkt 2015 erreicht hat. Rechtsextreme Einstellungen sind in der Gesamtbevölkerung seit 2002 eigentlich rückläufig. Aber diejenigen, die rechtsextrem eingestellt sind, verhalten sich heute auch rechtsextrem. Sie sind auch eher gewaltbereit. Das war vor gut zehn Jahren noch nicht so.
Wie kann man den Rechtsextremismus eindämmen oder sogar ganz verhindern?
Was die Politik in Deutschland, aber auch in anderen Ländern bislang getan hat, ist unbefriedigend. Man kann natürlich das Waffenrecht verschärfen und stärker gegen Hasskommentare vorgehen. Das ist wichtig, bekämpft aber nur die Symptome. Viel wichtiger ist die Prävention von Rechtsextremismus. Aber nicht bei Menschen, die schon radikalisiert sind. Man muss im Kindes- und Jugendalter anfangen. Da gibt es schon einiges in der Kinder- und Jugendarbeit wie etwa Empathie-Trainings an Schulen. Kindern lernen, Vorurteile gegenüber Fremden abzubauen. Wichtig sind vor allem Kontakte zu anderen Kulturen, aber in einer Form, die keinen Wettbewerb darstellt, sondern wo man etwas gemeinsam macht. Also kein Fußballspiel gegeneinander, sondern eher gemeinsames Kennenlernen.
Welche Rolle spielt die Herkunft?
Egal ob rechts oder islamistisch, extremistische Täter kommen zumeist aus nicht funktionierenden Familien. Es ist meist mehr oder weniger Zufall, in welchem Lager sie sich dann radikalisieren. Das heißt: Wir brauchen Beratungsangebote für Familien, psychotherapeutische Angebote, Sozialarbeiter. Im Falle der Islamisten gibt es bereits erfolgreiche Programme. Bei den Rechtsextremisten ist man hierzulande noch nicht so weit. Für diesen Bereich wird viel zu wenig Geld bereitgestellt. Projekte werden immer nur sehr kurzfristig angelegt. Aber Rechtsextremismus lässt sich nicht von heute auf morgen abschaffen. Das dauert Jahrzehnte.
Welche Rolle spielt das Frauenbild?
Männlichkeit ist sehr wichtig. Aus Interviews weiß ich, dass extremistische Täter sich als Beschützer der Gesellschaft und als verlängerter Arm einer nicht funktionierenden Polizei sehen. Frauen werden abgewertet. Es dominiert ein chauvinistisches Frauenbild. Das hat man auch beim Täter von Halle gesehen, der in seinem Statement vor Beginn seiner Taten nicht nur Juden diffamiert, sondern auch seine Ablehnung des Feminismus artikuliert hat. Oft handelt es sich um „Muttersöhnchen". Sie hassen unbewusst die eigene Mutter und projizieren das auf alle anderen Frauen. Diese Männlichkeitsvorstellungen spielen gerade im Rechtsextremismus eine sehr große Rolle.
Ist die AfD der „geistige Brandstifter" für Rechtsextremismus?
Es gibt eine Wechselbeziehung zwischen Wählern, Tätern und dieser Partei. Sie entsteht als politische Interessensgemeinschaft aus der Bevölkerung heraus. Menschen mit rechtsextremer Einstellung hat es schon immer gegeben. Nur verhalten sie sich heute auch eher so. Sie wählen diese Partei und fühlen sich durch deren Politik und Äußerungen ihrer Funktionäre, die teilweise rechtsextrem sind, in ihrer politischen Meinung bestätigt. Das trägt zur Radikalisierung bei. Aber die AfD ist nicht allein schuld. Sie entsteht aus einer Wählerschaft, die in weiten Teilen ohnehin schon radikal ist. Das ist so eine Art Spirale der Gewalt, die sich hochschaukelt.
Was macht die AfD so attraktiv?
Menschen mit rechtsextremer Einstellung haben früher kaum die NPD gewählt. Die war ihnen zu radikal. Die AfD gibt sich einen bürgerlichen Anstrich. Sie hat es geschafft, dass rechtsextreme, fremdenfeindliche und sexistische Parolen salonfähig geworden sind. Und dass Menschen, die das früher für unsagbar hielten, jetzt eine Stimme bekommen haben. Das macht die AfD attraktiv. Die Partei spielt mit den Ängsten bestimmter Bevölkerungsgruppen. Da geht es vor allem um die Angst vor kultureller Überfremdung durch eine angebliche Islamisierung und eine Unterwanderung durch kriminelle Ausländer-Clans. Diese Partei hat kaum ein sachliches Programm für die Zukunft. Sie ist vor allem durch emotionale Äußerungen geprägt. Davon fühlen sich bestimmte Bevölkerungsteile angesprochen. Die Stichworte lauten: Emotion und Angst. Die AfD macht mit dieser Angst vor Zuwanderung Politik. Damit trägt sie zu einer zunehmenden Spaltung zwischen Kulturen und auch innerhalb der Bevölkerung bei.
Warum ist der Osten so empfänglich für rechtes Gedankengut?
Ein wichtiger Grund ist, dass autoritäre Einstellungsmuster im Osten verbreiteter sind als im Westen. Das hat sicherlich mit den Erfahrungen im Sozialismus zu tun. Bedeutsamer ist aber, dass es in den letzten 30 Jahren einen massiven Braindrain gegeben hat. Viele Hochqualifizierte sind in den Westen übergesiedelt, vor allem viele junge Frauen. Um es verkürzt auszudrücken: Im Osten sind junge Männer übriggeblieben, die man gern als Verlierer bezeichnet und die autoritär eingestellt sind. Sie sind anfälliger für rechtsextreme Einstellungen. Das hat zunächst einmal nichts mit der ökonomischen Lage zu tun. Untersuchungen haben gezeigt, dass Einkommen und Arbeitslosigkeit keine Rolle spielen. Aber bestimmte Berufsgruppen wie Arbeiter sind anfälliger für autoritäre Einstellungen. Hinzu kommt, dass die Religion und kirchliche Bindung im Osten eine geringere Rolle spielt als im Westen.
Welche Rolle spielt denn die Religion?
Nur zwei Prozent der Muslime wohnen in Ostdeutschland. Das heißt: Diese Menschen entwickeln Vorurteile gegenüber Menschen und Religionen, die sie überhaupt nicht kennen. Was sie wissen, haben sie aus den Medien. Und die Medien berichten meistens negativ über den Islam, weil sie sich auf den islamistischen Terror konzentrieren. Ein anderer, allerdings wenig diskutierter, Grund für die Unterschiede zwischen Ost und West ist die Religion. Katholiken, die rechtspopulistischen Positionen zustimmen, wählen eher die CDU als die AfD, Protestanten mit solchen Eintellungsmustern eher die SPD. Im Osten fehlt die Prägekraft religiös-politischer Milieus, weil dort über 80 Prozent konfessionslos sind.
Ist die Demokratie in Deutschland gefährdet?
Demokratie ist immer gefährdet. Das ist wie eine Liebesbeziehung, an der man ständig arbeiten muss. Im Moment erleben wir das Erstarken einer Partei, die antidemokratisch ist und bei der einzelne Funktionäre mit ihren Parolen gegen das Grundgesetz verstoßen, etwa gegen die Religionsfreiheit. Das ist eine sehr gefährliche Situation. Aber es ist anders als in den 1930er-Jahren, weil die Medien und die Instanzen, die Gerichte, noch sehr gut funktionieren. Das gibt Hoffnung. Solange diese Institutionen noch funktionieren, spielt die demokratische Mehrheit eine weitaus größere Rolle als die Antidemokraten, die Rechtsextremen und die Rechtspopulisten. Trotzdem würde ich sagen, dass wir in einer sehr gefährlichen Situation leben, weil wir es nicht nur in Deutschland mit einer Regression zu tun haben, in der sich bestimmte Bevölkerungsgruppen plötzlich unreif und unsozial verhalten und eher destruktiv als progressiv sind.