Im Nordosten Berlins hat der Bauhaus-Architekt Mies van der Rohe seinem Motto „Weniger ist mehr“ ein Denkmal gesetzt. Das einstige Haus Lemke ist aber nicht nur Architektur-Ikone, sondern Veranstaltungsort für vielfältige Kunstprojekte.
Man kann es fast übersehen, wenn man die ruhige Oberseestraße im Stadtteil Hohenschönhausen entlanggeht. Vorbei an stattlichen Villen auf der einen Seite und fünfstöckigen Wohnhäusern auf der anderen. Eine niedrige Fassade aus rötlichen Ziegelsteinen duckt sich da zwischen großen Bäumen: gerade Formen, ein einziges Geschoss, darauf ein flaches Dach. Der Straße kehrt das Haus sozusagen den Rücken zu, nur ein Fensterband durchbricht die Mauern. Der kurze gepflasterte Weg vom Zaun führt direkt aufs Garagentor zu, noch so ein Understatement. Das Haus selbst nimmt sich ganz zurück, die Hauptrolle spielt jemand anders. „Die Sonnenbrille gehört hier zur Arbeitskleidung“, verrät Wita Noack. Die promovierte Kulturwissenschaftlerin leitet das Haus. Während sie ins nächste Zimmer führt, wird die Rollenverteilung klar. Denn man vergisst fast, ob man drinnen oder draußen steht. Eindeutiger Star ist die Natur selbst – Licht, Luft, Sonne. Die Architektur ist auf das Nötigste reduziert. Statt Mauerwerk gibt es vor allem Glas. Auf der Gartenseite verbinden wandgroße Glasflächen Innen- und Außenraum, Haus und Garten fließen optisch ineinander, der Obersee schließt das große Grundstück ab. Das Haus mit seinen drei Hauptwohnräumen hat 160 Quadratmeter. Da ist der größte Raum aber noch nicht eingerechnet, denn der steht unter freiem Himmel: das „Gartenzimmer“.
Kleines Haus – großer Freiraum
Das war ganz im Sinne des Bauherrn Karl Lemke. Der Druckerei-Unternehmer gibt 1932 den Auftrag für das moderne Landhaus. Er hat das Doppelgrundstück in der Oberseestraße gekauft, will aber nur einen Teil der Fläche bebauen, die zweite Hälfte ist als Reserve für schlechte Zeiten gedacht. Lemke beauftragt den Architekten Mies van der Rohe mit dem Neubau. Van der Rohe ist damals nicht nur ein gefragter Architekt, sondern auch Direktor am Bauhaus in Weimar – an der Schule für Architektur und Kunst, die gerade ihren 100. Geburtstag feiert. Für das Ehepaar Lemke entwirft der Architekt ein Haus mit L-förmigem Grundriss, das nur die Nordostecke des Grundstücks bespielt. Der flache Bau ist schon 1933 fertig. Mit der schlichten Architektur und den weitgehend verglasten Fassaden hat Mies van der Rohe hier einen Bautyp geschaffen, der später Furore machen soll. Es ist zugleich das letzte Wohngebäude, das der Architekt umsetzen kann, bevor er in die USA emigriert.
„Das war fast eine Bruchbude“
Die weitere Geschichte des Hauses im Zeitraffer: Karl Lemke und seine Frau Martha leben zwölf Jahre in ihrem neuen Haus, müssen es jedoch 1945 verlassen. Nach dem Krieg nutzt es die Sowjetische Armee als Garage. Ab den 60er-Jahren bringt die Staatsicherheit der DDR dort eine Waschküche, eine Hausmeisterwohnung und eine Küche unter. Der Garten dient zeitweise als Parkplatz. Die Architektur habe in dieser Zeit gelitten, erklärt Wita Noack, die Innenausstattung auch. 1977 wird das Haus Lemke unter Denkmalschutz gestellt, bis zur Sanierung dauert es zwei weitere Jahrzehnte. „Als ich angefangen habe, war das fast eine Bruchbude“, so Noack. Seit 2002 ist das Haus in den Originalzustand zurückversetzt. Auch der Garten ist nach den historischen Plänen neu angelegt worden. Die Sanierung folgte den alten Plänen bis ins Detail. Das zeigen etwa die Klinken, betont Noack: Inzwischen sind das wieder die MR-Türdrücker aus Weißbronze mit der praktischen Kuhle für den Zeigefinger, entworfen von Mies van der Rohe. Die typischen Freischwinger-Sessel, ebenfalls Entwürfe des Architekten, stehen einladend auf der Terrasse. „Wir sind kein Museum, in dem man sich alles nur ankucken kann. Bei uns steht die Kunst nicht in der Vitrine, sondern bleibt lebendig“, betont die Direktorin – die Sessel dürfen Besucher natürlich nutzen. Und die Sitzmöbel aus Stahlrohr leiten auch gleich über zur laufenden Ausstellung.
Bewegung als Traum
„Wir wollen nicht an vergangenen Zeiten kleben“, stellt Noack klar. Ihr Haus sei ein Architektur-Denkmal – aber eben auch ein Haus fürs zeitgenössische Kunstschaffen. In wechselnden Ausstellungen präsentiert man hier aktuelle Kunst, bis Weihnachten läuft die Schau „Bewegung als Traum“. Sie schließt einen Ausstellungsreigen ab, den das Kuratoren-Team fürs Bauhaus-Jahr konzipiert hat.
Im ehemaligen Wohn- und Speisezimmer des Hauses steht jetzt eine hohe Metallstange auf einem schwarzen Podest. Das ist aber nur der Anfang: Besuchern reicht Noack eine Videobrille. Sobald man die vor den Augen hat, startet eine Tanz-Performance. Eine junge Tänzerin in knappem Sportdress schwebt, schwingt, wirbelt einen athletischen Stangentanz. Die Installation haben die Künstler Heike Mutter und Ulrich Genth zur Eröffnung der Ausstellung gezeigt, sie wurde mit einer 360-Grad-Kamera aufgezeichnet. Pole Dance im Museum?
„Hier geht es auch um Gesellschaftskritik“, erklärt Noack. „Wenn ein Möbel früher bei Mies dazu da war, sich zu erholen, für die Kontemplation, und dafür körpergerecht ausgeformt war, dann steht diese Pole-Dance-Stange am Ende der langen Kette eines Stahlrohrmöbels. Plötzlich ist das Ganze zu einem Sportgerät mutiert und damit ins komplette Gegenteil umgeschlagen – zur Fitness. Das sagt viel aus über unsere heutige Zeit – über die Vorstellung vom Körper als biologisches Material, das man formen kann wie verrückt …“ So schlägt die Ausstellung den Bogen zur Bauhaus-Idee und -Tradition. Zeichnend nähert sich der Architekt Sergei Tchoban dem Thema Bewegung: Er hat für das einstige Herrenzimmer eine wandfüllende Kohlezeichnung gestaltet. Sie zeigt eine idealisierte Stadt. Zwischen den Bauten schlängelt sich eine Glasröhre – durch sie bewegen sich Figuren wie in einem Traum.
Das dritte Werk der Ausstellung steht dann im nächsten Raum. Dort zeigen Emilia und Ilya Kabakov ein Architekturmodell. Diese „Cupola“ ist als Bühnenbild entstanden, sie ist gekippt, sodass man die Kuppelkonstruktion verfolgen kann. Drei ganz unterschiedliche Werke – und damit reichlich Stoff für die vielen Besucher, die durch das Haus ziehen.