Ein Engländer und ein Amerikaner – Chris Sandy und Michael Steltzer – gründeten vor 35 Jahren den ersten Drachenladen in der Hauptstadt. Mittlerweile ist die nächste Generation am Ruder beziehungsweise an den Schnüren.
Die alle Jahre fallen Blätter von den Stadtbäumen und wehen in Windeseile über das Tempelhofer Feld. Über die größte innerstädtische Freifläche der Hauptstadt bläst der Wind ungehindert. So mehren sich in den letzten schönen Herbsttagen am Himmel über Berlin auch wieder die kunterbunten Farbtupfer der Drachen. Lenkmatten-Freaks bevölkern das Rollfeld in Scharen. Die Vielfalt und Techniken der Modelle sind frappierend, selbstgebastelte Papierdrachen waren vorgestern.
In Berlin wurde Drachengeschichte geschrieben: Los mit der Drachenmanie ging es 1983. Da hatten zwei junge Männer nämlich den amerikanischen Drachenkult erstmals noch zu DDR-Zeiten und vor dem Mauerfall nach Berlin gebracht. Chris Sandy, Engländer und Computerfachmann, sowie Michael Steltzer, Amerikaner und Architekt, entschieden sich, gemeinsam den ersten Drachenladen in der Eisenacher Straße 81 in Schöneberg zu gründen. Nach Bremen und Stuttgart waren die Berliner mit ihrem „reinen“ Drachenladen an dritter Stelle. 35 Jahre später heißt die „Vom Winde Verweht Sandy und Steltzer GbR“ mittlerweile „Flying Colors“, das mit seiner Spezialisierung und Angebotsvielfalt das älteste und in dieser Form auch einzige Geschäft in Berlin ist. Die nächste Generation, Steltzers Tochter Sarah Bösche, und ein sechsköpfiges Team aus langjährigen Mitarbeitern, Azubis und Praktikanten hat nun das Ruder beziehungsweise die Schnüre übernommen.
Für viele ist das Drachensteigenlassen einfach nur verbunden mit ihren Kindheitserinnerungen – eine oftmals vergessene Leidenschaft. Hat man dann selbst Kinder, erinnert man sich. Aber ist das Lass-Deinen-Drachen-steigen-Thema Kinderkram? „Keineswegs“, findet Sarah Bösche, die mit den bunten Windvögeln in allen Größen, Farben und Formen im gleichen Kiez aufgewachsen ist. Der Drache befreie den Geist, sei ein emotionales, lebendiges Spielzeug – könne auch beruhigend und kontemplativ genutzt werden. Das spiegelt sich auch im Logo, in dem sich ein roter Drachen über dem chinesischen Yin und Yang-Symbol – der Einheit der Gegensätze – erhebt. „Nicht nur Kinder, die dafür jegliche Computerspiele links liegen lassen, haben ziemlich großen Bock aufs Drachenthema. Es gibt zum Beispiel auch erstaunlich viele ältere Herren, die sich bei uns einen schönen Ein-Leiner zulegen. Viele unserer Kunden nehmen das Drachenthema aber ziemlich trendsportlich und befassen sich mit den Techniken und Bauarten“, erklärt sie und zeigt auf eine Wand voller bunter Plakate, die für das jährlich stattfindende Drachenfest gestaltet wurden. Davon gebe es sechs große und bekannte im Jahr. Viele kleine gibt’s in fast jedem Dorf. Früher, in der ersten Drachen-Ära, als der Vater noch sehr aktiv war, seien Drachenfeste wettbewerbsorientiert gewesen. Auch da schrieben Steltzer und Sandy Geschichte und initiierten nicht nur das erste internationale Drachenfestival in Berlin (1984) und die ersten Deutschen Lenkdrachenmeisterschaften 1985, sondern fuhren auch als erste deutsche Drachen-Delegation nach China (1985). Das größte sei das Festival der Riesendrachen aus Asien. Die werden von den Freaks selbst gebaut, mit Kosten um die 10.000 Euro. Der heute über 70-jährige Steltzer war viel unterwegs und tourte mit den anderen internationalen Lenkdrachenteams jahrelang zu Festivals und Wettbewerben durch ganz Europa bis nach Indonesien. Sogar Europa- und Weltmeisterschaften waren dabei. Immer raffiniertere Drachen kamen auf den Markt, und 1989 fand der erste europäische Drachenbauwettbewerb statt.
„Viele Kunden nehmen es ziemlich trendsportlich“
Aber was macht die Qualität eines guten Drachens denn aus? Welche Materialien gibt es? Und was ist ein Ein-Leiner? Solche Fragen werden geduldig beantwortet, denn im „Flying Colors“ wird die Fachberatung großgeschrieben. Die macht trotz steigender Konkurrenz im Internet auch den 35-jährigen Erfolg des Ladens aus. Mit seinem Konzept „Drachen, Jonglage, (sportliche) Freizeitartikel und Spielzeug“ genießt er in Berlin quasi immer noch ein Alleinstellungsmerkmal. „Oft kommen die Leute enttäuscht mit Drachen zu uns, die sie in den gängigen Handelsketten gekauft haben. Die gehen schnell kaputt. Ein Drachen muss leicht gebaut und gut genäht sein. Die mit Folie reißen schnell“, so die „Drachenhüter-Tochter“. Das beste Material sei das Spinnaker-Nylon. Das Tuch hängt als laufender Meter mit einem großen Farbspektrum in einer Extraecke und sei auch bei Leuten aus der Mode- und Textil-Branche für Jacken, Röcke oder Taschen sehr gefragt. „Der Ein-Leiner ist unser meist verkaufter Klassiker. Bei ihm hängt der Drache nur an einer Schnur, ist nicht lenkbar und wird allein vom Wind gesteuert. Das Tanzen im Element lieben ganz kleine Kinder oder eben die besonders Lebenserfahrenen. Wohingegen der Stablenkdrachen an zwei Schnüren hängt und nach rechts und links lenkbar ist.“ Das hört sich schon sportlicher an und gilt als Motivationsvorstufe zu den Lenkmatten, auch Kites genannt, die mit zwei (zum Lenken), drei (zum Ausbremsen) oder vier (der Möglichkeit, sich selbst mit den Windkräften fortzubewegen) Schnüren bedient wird. Letzteres könne man auch mit Skateboards, Inline-Skates oder Fahrrädern nur auf dem Tempelhofer Feld einsetzen. Die Bretter fürs Kitesurfen auf dem Wasser kann man theoretisch auch im „Flying Colors“ bestellen, aber hierfür seien Surfläden die besseren Berater. Der Teufelsberg als Kiter-Ort war auch mal ein Versuch, aber ist letztendlich zu klein. Sonst bliebe nur die Fahrt an die Ostsee oder einen netten Bauern in Brandenburg zu fragen, ob man über sein Feld brausen dürfe.
Außer Drachen werden im „Flying Colors“ auch Sport- und Freizeitartikel wie Bumerangs oder Frisbee-Scheiben sowie alles zum Jonglieren wie Diabolos, Keulen und Bälle angeboten, mit denen sich etwa Zirkusleute oder Schulen eindecken. Ein ästhetischer Hingucker ist das Kendama. Bei dem Geschicklichkeitsspiel aus Japan muss man einen Ball in eine „Mulde am Stab“ jonglieren. Dass ein Jo-Jo nicht einfach ein Jo-Jo ist, lernt man nach Anmeldung immer donnerstags. Die Workshops werden vom deutschen Jo-Jo-Meister Dario Krawowski persönlich gegeben. Das „Flying Colors“ pflegt seine Community nun mal seit über drei Jahrzehnten.
Für Michael Steltzer, der sich mittlerweile aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen hat und sich lieber wie ein Drache im Wind auf Reisen begibt, war der Luftvogel stets mehr als nur Spielgefährte, sondern ein Artefakt mit hoher Symbolkraft: „Ob politische Aktionen oder künstlerische Botschaften. Ob jung oder alt, reich oder arm, Mann oder Frau: Die Drachen haben es in sich und verbinden Menschen sowie die Kräfte der Natur miteinander. Viele Drachenaktionen in meinem Leben spiegeln das wider“, so Steltzer, für den der Drache vor allem ein Symbol der Freiheit war.
Im „Flying Colors“ gibt es auch andere Freizeitartikel
Besonders erinnert er sich an den 18. März 1990. Das sei überhaupt ein historisches Datum in der deutschen Geschichte. Zum einen fand an diesem Tag die Revolution 1848 statt, und es war der Tag der ersten freien Wahlen in der DDR: „Meine Drachenfreunde und ich haben am Potsdamer Platz, wo jetzt das Sony Center steht, eine Ohashi-Kette gestartet, also mehr als 300 Drachen an einer Leine, die in der Lage sind, in einem großen Bogen zu fliegen. Wir wollten an diesem Tag unsere Ohashi-Kette über die Mauer fliegen und somit Ost- und Westberlin symbolisch verbinden. Sogar die DDR-Grenzpolizisten stimmten unserem Vorhaben zu, unter der Bedingung, dass sie das Ende der Drachenkette auf der Ostseite der Mauer halten dürfen.“ Das war für die Drachenfreunde vor der Kulisse des Brandenburger Tors und des Reichstags ein erhabener Moment. Die Ohashi-Kette flog, wie sie sollte. Und dann erzählt er die Pointe: Der DDR-Grenzer, der die Kette hielt, meinte tiefsinnig dazu: „Endlich haben wir eine vernünftige Aufgabe“.
Sarah Bösche übernimmt das „Flying Colors“ in der Flugschneise des Vaters im kommenden Jahr. Und: Es ist ein kleiner Mensch unterwegs. Der wird, wie Sarah, garantiert das „Drachenblut“ und die Begeisterung für diese bunten, sympathischen Nylonluftvögel schon in der Muttermilch einsaugen. Drachengeneration, die dritte.