Ünsal Arik war obdachlos und kriminell. Dann entdeckte er sein Talent fürs Boxen, wurde Welt- und Europameister. Heute setzt sich der 39-Jährige für Menschenrechte ein und tauscht sich gern mit Schülern aus.
Ünsal Arik polarisiert. Der 39-jährige Deutsch-Türke und mehrfache Welt- und Europameister im Boxen nutzt seine Bekanntheit immer wieder zu öffentlichkeitswirksamer Kritik am türkischen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Anfang November war Arik an der Gemeinschaftsschule Bruchwiese in Saarbrücken zu Gast, wo er den Schülerinnen und Schülern von seinem bewegten Leben erzählte. Bevor Arik mit 27 Jahren mit dem Boxen anfing, war er obdachlos und kriminell. Dass an Schulen einmal Referate über ihn gehalten werden, in denen es um das Thema Demokratie und Menschenrechte geht, hätte er sich damals nie träumen lassen.
„Schulbesuche sind immer wieder aufs Neue spannend“, findet Ünsal Arik und erklärt: „Kinder sind ja nicht wie Journalisten – die überlegen nicht lange, die stellen ihre Fragen einfach geradeaus und sind dabei sehr ehrlich.“ Sich mit den Kids zu unterhalten, macht ihm Spaß, er genießt aber auch die Anerkennung: „Als Sportler gibt es nichts Schöneres, als von Kindern als Vorbild angesehen zu werden. Auch dafür mache ich das alles“, sagt der Boxprofi bei seinem ersten Besuch in Saarbrücken, zu dem neben dem Austausch mit den Schülern auch eine gemeinsame Trainingseinheit mit der Box-AG der Schule gehörte.
Bekannt als scharfer Erdogan-Kritiker
Ermöglicht wurde sein Gastspiel im Saarland vom Lions Club Heusweiler und dem Verein Team4Winners, der an unterschiedlichen Schulen zusätzlichen integrativen Sportunterricht anbietet. „Die Menschen hier waren sehr freundlich zu mir. Mir wurde von Anfang an richtig gut zugehört und ich habe gemerkt, dass ich allen die türkische Kultur etwas näherbringen konnte“, blickt er zufrieden auf „coole, chillige Gespräche“ zurück und ergänzt mit einem Augenzwinkern: „Oder auf gut deutsch: Wie wir Kanaken so ticken und weshalb wir untereinander so viele Missverständnisse haben.“
Dabei passte der Besuch in Saarbrücken eigentlich so gar nicht in den Terminkalender des Sportlers. Vier Tage später stand er nämlich schon wieder im Ring und boxte gegen den Weißrussen Siarhej Huliakevich um den Asien-Gürtel des Weltverbandes WBC. „Marthe Gampfer vom Lions Club hatte sich monatelang dafür eingesetzt, dass ich vorbeikomme, und ich hatte vor allem wegen der großen Sympathie vor einem halben Jahr zugesagt. Da war der Kampf noch gar nicht geplant“, erklärt Arik und fügt an: „Ich wollte die Kinder nicht enttäuschen.“
Der Vorbereitung auf seinen Kampf am 8. November in Bergisch-Gladbach schadete es im Übrigen nicht: Er siegte nach Punkten und holte damit seinen insgesamt zwölften Titel in neun Jahren als Profi. Seine Fans feiern Ünsal Arik nicht nur für seinen beeindruckenden Lebensweg oder seine Erfolge als Sportler, sondern auch für seinen Mut. Seit einem denkwürdigen Auftritt vor sechs Jahren ist er eine politische Figur. Nach einem Kampf in der Türkei streifte er sich aus Protest gegen Erdogan ein T-Shirt über mit der Aufschrift: „Die Türkei gehört Atatürk, nicht Tayyip“. Diese Aktion katapultierte ihn in die Öffentlichkeit, die er nutzte, um nachzulegen. Die scharfe Kritik am türkischen Staatspräsidenten machte ihn zur Zielscheibe, gar zum Feindbild radikaler Erdogan-Anhänger, von denen er sogar Morddrohungen erhält. „Wenn ich mit meiner Frau spazieren gehe, sind meine Augen und Ohren überall“, sagt der 39-Jährige, der aber auch viel Zuspruch erhält. „So ist halt das Leben. Es gibt Höhen und Tiefen, man hat Freunde und man hat Feinde. Alles gehört dazu.“
Der Riss, der die türkische Gesellschaft in Erdogan-Anhänger und -Gegner trennt, macht auch vor Ariks Familie nicht Halt. Manche Verwandte reden nicht mehr mit ihm. „Ich bin ihnen kein bisschen böse. Das sind Menschen aus verlassenen Dörfern, die auf dem Feld arbeiten und von dem leben, was sie ernten. Dann kommt ein Präsident daher, der Straßen bis in dein Dorf baut, die Schule saniert und dir noch zehn Kilo Reis schenkt“, erklärt der 39-Jährige. „Natürlich sagen die, das sei ein super Mann. Leider fehlt es hier auch an Bildung und eigener Recherche. In den großen Universitätsstädten wird ja bewiesen, dass es auch anders geht. Viele Deutsch-Türken wählen Erdogan übrigens aus Trotz, weil ihn die deutsche Presse so stark angreift.“ Eines steht fest: Solange Erdogan an der Macht ist, geht Ünsal Ariks Kampf gegen ihn weiter. „Ich kann nicht einfach aufhören, selbst wenn ich es wollte. Ich trage eine zu große Verantwortung“, weiß Arik. Das Bedauern darüber, sich diese Bürde selbst aufgeladen zu haben, hält sich allerdings in Grenzen. Den Schülerinnen und Schülern der Gemeinschaftsschule Bruchwiese sagte er: „Ich bereue vieles von dem, was ich so in meinem Leben getan habe. Aber ich würde alles genau so noch einmal machen. Ihr müsst bereit sein, vieles aufzugeben, um nicht aufzugeben.“ Seiner Meinung nach darf der Kampf für Einigkeit und Recht „keinen Preis haben“. Diese klare Haltung ist das Ergebnis eines holprigen Lebensweges. Ünsal Arik wuchs in einem 7.000-Seelen-Dorf in Bayern auf und erlebte dort Diskriminierung und Benachteiligung am eigenen Leib. Er hat keinen Schulabschluss, wurde kriminell, lebte eine Zeit lang obdachlos auf den Straßen Berlins. „Dann habe ich irgendwann die Boxhalle entdeckt“, berichtet er. Damals war Arik 27 Jahre alt. Mit 30 wurde er Profi, wenig später Weltmeister. „Jetzt stehe ich in der Öffentlichkeit und habe gecheckt, dass ich meinen Namen und die Aufmerksamkeit für gute Zwecke nutzen kann“, sagt Arik, der sich unter anderem für krebskranke Kinder einsetzt und seit 2015 offizieller Botschafter der Stiftung Kinderherz ist. Das, was er tut, mache er aus der festen Überzeugung heraus, „dass jedes Lebewesen auf dieser Erde ein Recht auf Frieden und Freiheit hat“. Deshalb ernährt er sich vegan.
Offizieller Botschafter der Stiftung Kinderherz
Mit seinen Erfolgen will der amtierende Europameister im Superweltergewicht (bis 69,9 Kilogramm) außerdem den Gegenbeweis für die These liefern, dass Leistungssport bei veganer Ernährung nicht möglich sei. Darüber hat er sogar ein Buch mit dem Titel „VegBoxen“ geschrieben. Zusammen mit seiner Frau verfolgt Arik das Ziel, nach dem Ende seiner Karriere einen Bauernhof zu gründen, mitsamt einer Hilfsstation für Tiere. Auch sollen Gäste dort übernachten können und dafür – neben einer freiwilligen Spende – auf dem Hof mitarbeiten. Wo genau dieser Traum Wirklichkeit werden soll, steht noch nicht fest: „Hauptsache, dort ist es grün.“ Demnach käme auch das Saarland in Frage. „Wer weiß“, sagt Ünsal Arik und lacht.