Pferde, Schafe, Hunde, Elefanten und Hunderte andere Tiere erweckt Christian Werner auf seiner Drehbank zum Leben. Der 58-Jährige ist Reifendreher, einer der letzten, die dieses seltene Handwerk ausüben.
Dieses Haus ist ein einzigartiges Universum, ein ganz besonderes Zauberland: Kaum hat man die Schwelle des jahrhundertealten Erzgebirgshauses in Seiffen überschritten, muht, mäht, gackert, kreischt, miaut, bellt, schnattert, flattert, trampelt, kriecht, schwimmt und schleicht es einem entgegen. Freilich, hören können das nur Kinder und all jene Erwachsenen, die im Herzen Kind geblieben sind. Doch wer an Christian Werners Tür klopft, ist so einer. Willkommen im Land der Fantasie!
Christian Werner ist Reifendreher, einer der wenigen, der dieses seltene, weltweit nur noch in Seiffen existierende Handwerk ausübt. Ein Handwerk, das neben Fingerfertigkeit vor allem Fantasie und ein für die meisten Menschen schier unvorstellbares räumliches Vorstellungsvermögen verlangt.
Eine Legende unter den Reifendrehern war sein Lehrmeister
„Das wird ein Zebra“, erklärt der Meister und spannt eine dicke Scheibe nasses Fichtenholz in seine hölzerne Drehbank, wirft sie an und glättet zunächst die Oberfläche. Dann dreht er mit diversen Drehstählen an verschiedenen Stellen unterschiedlich tiefe Rillen und Kerben ins Holz, wobei er immer wieder mit den Fingern die Stärke des Holzes überprüft, korrigiert hier ein wenig und nimmt dort noch etwas weg. Endlich zufrieden, trennt er das fertige Stück vom Rest der Scheibe. „Ein schönes Zebra“, befindet der Meister zufrieden. „Wo?“, frage ich zurück und betrachte das Teil, das wie ein kunstvoll gedrechselter Rahmen aussieht, von allen Seiten. Christian Werner legt es auf einen Holzklotz, nimmt ein Hämmerchen und ein Küchenmesser und spaltet den Holzkranz in daumendicke Scheibchen – lauter Zebras purzeln vom Ring. Später werden die „Rohdiamanten“ noch beschnitzt und angemalt. Mit kindlicher Freude betrachtet der 58-Jährige die kleine Herde, der er gerade auf die Welt verholfen hat, und antwortet auf die lautlose Frage, die er meinem staunenden Gesicht abliest: „Man muss im Negativen das Positive sehen können, im Reifen die fertigen Tiere.“
Außer ihm können das noch etwa eine Handvoll Menschen. Mehr Reifendreher gibt es nicht, und Christian Werner ist unter ihnen der Einzige, der von der Idee über die Skizze, das Drechseln, Schnitzen und Bemalen bis hin zum Versand der Figuren alle Arbeitsschritte unter einem Manufakturdach vereint.
Das Reifendrehen entstand in Seiffen im Erzgebirge mit dem Niedergang des Zinnbergbaus Ende des 18. Jahrhunderts und galt als kleine Sensation. Bis dahin nämlich nutzten die Männelmacher, wie die Schnitzer und Drechsler in Seiffen genannt werden, die vorhandene Wasserkraft ausschließlich zum Drechseln von Figuren, Pyramidenteilen und Spielzeug. Kleine Tiere auf diese Weise herzustellen, war kaum möglich. Die Erfindung des Reifendrehens ermöglichte nun mit geringem technischen Aufwand eine rationelle Produktion in großer Stückzahl.
In der Blütezeit um 1920 gab es rund 30 Reifendreher in Seiffen. Sie verkauften ihre Rohlinge an Heimarbeiter, die sie mit der ganzen Familie weiterverarbeiten – spalteten, beschnitzten, komplettierten mit Ohren und Schwänzen und bemalten. Ein geübter Reifendreher schaffte am Tag die Rohlinge für vier Heimarbeiterfamilien.
Christian Werner kam über einen Umweg und viel Frustration zu den Reifendrehern. Schon als Kind hatte er von seinem Vater, der ein bekannter Männelmacher in Seiffen war, das Drechseln gelernt. Der Junge liebte es, aus einem Stück Holz etwas Schönes zu machen, und so lag es fast auf der Hand, dass er selbst den Beruf des Holzspielzeugmachers erlernte. Was nach der Ausbildung kam, war aber alles andere als befriedigend. „Tag für Tag habe ich Spanschachteln hergestellt“, erinnert er sich. Das zermürbte ihn auf Dauer. „Gebt mir eine verantwortungsvolle Arbeit oder ich bin weg“, erklärte er schon bald seinem Chef.
Als sich nichts änderte, kündigte er und wechselte ins Freilichtmuseum des Ortes, wo sich ihm die Gelegenheit bot, das Reifendreherhandwerk zu erlernen. Paul Preißler, damals schon 92 und eine Legende der seltenen Zunft, wurde sein Lehrmeister. „Das war ein harter Hund, ich habe so manche Ohrfeige von ihm kassiert. Aber was ich heute kann, verdanke ich ihm“, sagt Christian Werner. Als der Lehrmeister der Meinung war, dass man den begabten Lehrling „auf die Menschheit loslassen kann“, arbeitete der in der Schauwerkstatt des Museums. Anfangs erfüllte ihn diese Arbeit auch, doch irgendwann sagte er sich: Das kann doch nicht alles gewesen sein. Tagein, tagaus nur Kühe, Pferde, Schafe, Schweine, Hunde und Elefanten drehen. Die Tierwelt ist doch viel größer. Vor allem aber störte ihn, dass das Reifendreherhandwerk nicht mehr wirklich gelebt wurde, sondern als Touristenattraktion im Museum gelandet war. „Wenn die Leute in schlechten Zeiten davon eine Familie ernähren konnten, dann muss es heute auch möglich sein“, sagte er sich, nahm 1985 seinen Hut im Museum und machte sich selbstständig. Unterstützung fand er bei der Familie, insbesondere bei seinem Vater, der seinem Sohn riet: „Du musst eine Arche bauen.“ Ein bisschen meinte er damit wohl auch: Du musst nicht nur das alte Handwerk, sondern dich selbst retten.
Samt Kartoffelkäfer und Schwarzer Witwe
Christian baute die Arche Noah, bis heute ist sie so etwas wie sein Markenzeichen. 18 verschiedene Tierpaare, Noah, dessen Frau und natürlich die Arche selbst gehören zur Grundausstattung, aufgestockt werden kann sie mit bis zu 65 Tierarten, die ständig zu haben sind. Wobei der „Noah von Seiffen“ noch viel mehr Viecher auf die rettende Arche mitnehmen könnte, rund 300 Arten kann er auf der Drechselbank zum Leben erwecken, darunter auch solche, die man nicht gleich erwartet, wie den Kartoffelkäfer oder die Schwarze Witwe. Und es kommen immer wieder neue dazu, denn „es fehlen mir noch ein paar ganz wichtige – Känguru und Krokodil beispielsweise“.
Arbeitete Christian Werner anfangs nur mit seiner Frau zusammen, so beschäftigt er heute acht Leute, darunter vier selbst ausgebildete Reifendreher, Schnitzer, Maler und Leimer. Seine Figuren gehen in viele Länder der Welt. Der Meister ist froh, dass noch immer Kinder damit spielen und dass es viele „Kindsköpfe wie mich selbst“ gibt, für die die Reifentiere begehrte Sammlerstücke sind. Keines sieht aus wie das andere, jedes ist ein Unikat und ein Herz- wie Seelenerwärmer obendrein.