Großbritannien befindet sich in der Endphase des turbulentesten Wahlkampfes seiner neueren Geschichte. Auf Boris Johnson hat bis vor Kurzem kaum einer gesetzt. Doch er könnte Wahlsieger werden.
Rastlos und mit tiefschwarzen Augenrändern tritt Boris Johnson dieser Tage von früh bis spät bei Wahlkampfveranstaltungen auf. Mal knuddelt der Premierminister Kinder. Dann pariert er Presseleute. Und zwischendurch streichelt er auf einem Bauernhof ein Rind. Bilder für die Medien produzieren – das ist derzeit die Mission des wuschelköpfigen konservativen Tausendsassas.
Es läuft gut für den konservativen Politiker. Alle bisherigen Umfragen sagen einen deutlichen Wahlsieg von Johnsons konservativer Partei, den Tories, voraus. Wenn es dazu am 12. Dezember tatsächlich kommt, wird der unkonventionelle Hausherr von 10 Downing Street das Ergebnis als Zustimmung zu seiner gebetsmühlenartig vorgetragenen Zentralbotschaft werten: „Get Brexit done!" – den Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union erledigen.
Aufgeheizt durch die jahrelang im Parlament aggressiv diskutierten Konditionen für ein EU-freies Großbritannien ist der listig von Johnson erzwungene Wahlkampf heiß. Schonungslos hacken die Kontrahenten aufeinander ein, um das Balzen um die Stimmen der Untertanen Ihrer Majestät Queen Elizabeth II. für sich zu entscheiden. So teilt Johnson bei jedem Auftritt spöttisch gegen seinen sozialistischen Herausforderer Jeremy Corbyn (Labour) aus: „Lasst uns bis Weihnachten Corbyn-neutral werden!"
Der Oppositionsführer hat den Fehdehandschuh aufgenommen und versucht, die Debatte thematisch umzulenken. „Boris Johnson versucht, den Brexit zu missbrauchen, um unser nationales Gesundheitssystem (NHS) und die Werktätigen dieses Landes zu verkaufen", behauptet Corbyn ein ums andere Mal. Warnend malt er Szenarien an die Wand, bei denen US-amerikanische Großkonzerne in brutaler Trump-Manier über Großbritannien herfallen, um die heilige Kuh aller britischen Sozialromantiker zu schlachten.
Johnson kennt nur ein Thema
Johnson pariert die Unterstellung, ein bloßer Büttel des Big Business zu sein, mit regelmäßigen Dementis. Dennoch trifft der zottelige Bartträger Corbyn damit die Weichteile der Konservativen, denen schon immer der Ruf sozialer Kälte vorauseilte. Um Johnson bei diesem populären Thema nicht vom Haken zu lassen, präsentierte die Labour Party den Medien ein 451-seitiges Geheimdokument aus dem Handelsministerium. Laut Corbyn belegt es Gespräche zwischen der britischen Regierung und US-Unterhändlern über einen „Ausverkauf" des staatlichen Gesundheitssystems: „Diese Wahl ist nun ein Kampf ums Überleben unseres NHS."
Trotz aller Anwürfe: Johnson scheint zu stehen. Die Umfragewerte des Mannes, der es wie kein anderer britischer Politiker versteht, seine Positionen zu drehen und zu wenden, bleiben stabil auf deutlichem Abstand zur Labour Party. Das liegt nicht nur daran, dass es der brillante Rhetoriker bei jedem Auftritt schafft, von Anfang an im Zentrum des Geschehens zu stehen, sondern auch an der Schwäche der Opposition.
So verlangt Corbyn eine zweite Volksabstimmung über den Brexit. Zugleich weigert er sich aber anzugeben, ob er bei dem Referendum eine Empfehlung für oder gegen die EU-Mitgliedschaft aussprechen würde. „Das Volk soll ohne Vorbehalte entscheiden", sagt Corbyn und drückt sich damit vor einem klaren Kurs.
Auch das krass linksgerichtete Wahlprogramm „Für die vielen, nicht die wenigen" zündet nicht. Kaum jemand hält es für finanzierbar. Labour verspricht allen etwas: kostenlose Kinderbetreuung, gebührenfreie Universitäten, überall freies Internet sowie die Verstaatlichung von Post, Eisenbahn, Wasserwirtschaft und Energiebranche.
Erschwerend für Corbyn kommt hinzu, dass die Labour Party immer wieder wegen antisemitischer Kräfte in seinen Reihen ins Gerede kommt. Eine interne Untersuchung hatte schon 2016 ergeben, dass die Partei zwar nicht von Judenfeindlichkeit „überrannt" werde, sich jedoch „eine gelegentlich giftige Atmosphäre" breitgemacht habe. Corbyn, der sich dafür entschuldigt hat, macht jedoch bei der Aufarbeitung des heiklen Themas eine unglückliche Figur und provozierte damit bis heute nicht verstummende heftige Kritik nicht nur aus der jüdischen Gemeinschaft.
Während sich die Hauptkontrahenten Tories und Labour im britischen Wahlkampf unbarmherzig mit immer neuen Vorwürfen beharken, haben es andere Parteien schwer, wahrgenommen zu werden. So hinken die proeuropäischen Liberaldemokraten mit der jungen Vorsitzenden Jo Swinson trotz ihres sensationellen Europawahlerfolges (20 Prozent, stärkste bürgerliche Partei) in allen Umfragen klar abgeschlagen auf Platz drei hinterher. Das reicht nicht, weil das britische Mehrheitswahlsystem nur dem jeweiligen Wahlkreissieger einen Parlamentssitz zuweist („the winner takes it all"):
Dennoch geben die Liberalen Gas wie nie. Swinson, eine selbstbewusste 39-jährige Schottin, präsentiert sich furchtlos als Kandidatin für das Amt der Premierministerin.
„Alles ist möglich", sagt die Liberaldemokratin, die mit den Grünen und einigen Regionalparteien EU-freundliche Wahlbündnisse geschlossen hat. „Ich werde tun, was auch immer nötig ist, um den Brexit zu stoppen!" Ansonsten vertritt sie einen Kurs zwischen klarem Wirtschaftsliberalismus, grünprogessiver Gesellschaftspolitik und EU-Begeisterung.
Die Frau mit der großen Zahnlücke hat Erfolge vorzuweisen. „Jo" (Joanne) war einst mit 25 Jahren das jüngste Mitglied im Unterhaus. Das „Baby of the House" – so nannten sie Kollegen – hielt damals eine vielbeachtete Rede mit dem zweieinhalb Monate alten Sohn Daniel im Rückenrucksack. Als Staatssekretärin für Arbeit und Post in der konservativ-liberalen Koalition unter David Cameron lernte sie das Regieren.
Vor wenigen Monaten nun wurde Swinson die erste Frau an der Spitze der Liberaldemokraten, denen sie schon mit 17 Jahren beitrat. Als Marathonläuferin kennt sie sich mit Durchhaltestrategien aus. Ein Erfolg wäre es für die Lib Dems, wenn sie nach der Wahl das Zünglein an der Waage wären, das eine Alleinregierung von links oder rechts blockiert. Koalieren will Swinson aber nicht.
Corbyn und Labour außer Form
Die Kontrahenten agieren in einem Land, das eigentlich ganz andere Sorgen als den Brexit hat. So klaffen die Unterschiede zwischen der kleinen reichen Elite und den vielen Habenichtsen immer weiter auseinander. Während in London glitzernde Hochhäuser der lukrativen Finanzindustrie aus dem Boden schießen, veröden anderswo die Einkaufsstraßen und Wohnsiedlungen, ja: ganze Städte. Weder die radikale Marktwirtschaftlerin und „Eiserne Lady" Margaret Thatcher (1979–1990) noch der smarte Reformsozialist Tony Blair (1997–2007) haben es vermocht, nachhaltige Grundsteine zur Transformation einstiger Kohle- oder Schiffbaustandorte zu setzen.
Der sich anbahnende Sieg des Boris Johnson ist auch einem dunklen Deal zuzuschreiben, den er mit seinem vermeintlich ärgsten Gegner geschlossen hat: Nigel Farage. Der schwerreiche Investmenthändler und Gründer der rechtspopulistischen Brexit Party hatte bei der Europawahl im Mai mehr als 30 Prozent der Stimmen erreicht – mehr als jede andere Partei.
Nun hat Farage bekanntgegeben, seine Retortenpartei werde sich um keines der 317 Mandate bewerben, die Johnsons Tories bei der vergangenen Parlamentswahl gewonnen hatten. Mit dem innerparteilich nicht abgesprochenen Pakt löste er blankes Entsetzen aus. Hatte er doch noch wenige Tage zuvor verkündet: „Wir werden um jeden Sitz in England, Schottland und Wales kämpfen." Dementierten Gerüchten zufolge soll Farage eine lebenslange Berufung als Lord im Oberhaus zugesagt worden sein.
Noch nie dürfte Johnson täglich so viele Kinder, Rinder und Häschen gestreichelt haben, noch nie so oft in Anzug und Gummistiefeln über Äcker marschiert und so zahlreiche Begegnungen mit Bäckereifachverkäuferinnen, Senioren und Gemüsehändlern gehabt haben. Der Aufwand dürfte sich für ihn wohl lohnen. Denn bislang deutet alles darauf hin, dass das Fazit am Wahlabend lauten wird: Boris wirkt.