Die Inklusion an Saarlands Schulen kommt auch im fünften Jahr der Großen Koalition nicht voran. Das Bündnis für inklusive Bildung sieht massiven Nachholbedarf – ebenso wie UN-Beobachtungsstellen. Derzeit haben Eltern nur die Wahl zwischen zwei schlechten Optionen, heißt es.
Es steht schwarz auf weiß im Gesetzestext von 2014: „Die öffentlichen Schulen der Regelform sind inklusive Schulen. Sie ermöglichen grundsätzlich allen Schülerinnen und Schülern einen gleichberechtigten und ungehinderten Zugang", sagt das Schulordnungs- und Schulpflichtgesetz im Saarland.
Und dennoch – es wurde viel zu wenig dafür getan. Sagt jedenfalls das Bündnis für inklusive Bildung. Zu wenig Lehrer, zu wenig Geld, zu wenig Umsetzungswille in der Koalition. Das ist die einhellige Meinung der Bündnispartner. Stattdessen steigt die Zahl der Schüler an Förderschulen im Schuljahr 2018/2019 wieder, es wechseln laut Studien wieder mehr Kinder von einer Regel- zu einer Förderschule.
Ebenso wächst die Zahl der Förderschulen selbst, im Schuljahr 2019/2020 gibt es zwei neue Förderschulen im Saarland. Die Zahlen zeigen, dass es nach zehn Jahren UN-Behindertenrechtskonvention und sechs Jahren großer Koalition im Saarland in Sachen Inklusion „eher Stagnation oder sogar Rückschritte" gibt, so Traudel Hell vom Verein Miteinander Leben Lernen. Schon 2018 stellte eine Studie fest, dass es bei der Inklusion im Land massiven Nachholbedarf gibt. Diese allerdings wurde von der Landesregierung angezweifelt.
Vorrangiges Ziel des Bündnisses sei nicht, die Förderschulen abzuschaffen. Aber die Ausstattung für die Regelschulen müsste besser werden. „Es ist ein Skandal, dass das Kultusministerium mit dem Finanzministerium ringen muss, um entsprechende Lehrerstellen schaffen zu können", so Bernhard Strube von der Landeselterninitiative. Man habe ein Elternberatungszentrum versprochen. Passiert sei allerdings nichts. Man habe ein „Kollegium der Zukunft" versprochen und 500.000 Euro bereitgestellt, um multiprofessionelle Teams zusammenzustellen. Passiert sei allerdings nichts: Der Topf werde 2020 um zwei Millionen Euro aufgestockt, doch sei er bislang nicht angetastet worden. Multiprofessionelle Teams sollen helfen, der riesigen Vielfalt an Herausforderungen, Interessen, Begabungen und Potenzialen der Schüler zu begegnen: mit Sozialpädagogen, Integrationshelfern, Schulpsychologen beispielsweise.
Es fehlen der politische Plan und das Engagement der Politik, so das Bündnis für inklusive Bildung. Zu diesem Schluss kommt auch die unabhängige Monitoringstelle der UN-Behindertenrechtskonvention in ihrem Bericht zu zehn Jahren dieser Konvention in Deutschland. Darin heißt es: „Während Bundesländer wie Bremen den Auftrag zur Gestaltung eines inklusiven Unterrichts bereitwillig angenommen haben, haben sich andere Bundesländer, etwa Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, das Saarland oder Sachsen-Anhalt, – vielleicht nicht rhetorisch aber der Sache nach – nicht hinreichend engagiert."
Es gebe vor allem Klagen der Eltern, dass ihr Aufwand, um Hilfe bei der Bildungsauswahl zu bekommen, enorm sei, erläutert Bernhard Strube. „Es sind nicht nur die baulichen Probleme von Schulen für körperlich Behinderte. Noch immer tun sich Schulen schwer, Ressourcen für Inklusionsschüler freizumachen, ob zeitlich, finanziell oder personell." An all dem fehle es in vielen saarländischen Schulen noch. Ein Beispiel: „Für eine Schülerin sollte ein geeigneter Computer angeschafft werden, auf dem die Sehbehinderte besser lesen konnte. Erst mit Hilfe der Initiative Miteinander Leben Lernen haben die Eltern es geschafft, dass sie mithilfe dieses Computers an einer Regelschule unterrichtet werden konnte", so Strube.
Nun habe die CDU-Fraktion sogar vorgeschlagen, vorab sonderpädagogische Gutachten für Schüler zu erstellen – „aberwitzig" nennt Strube das. Traudel Hell: „Man könnte den Eindruck gewinnen, es gibt unterschiedliche Vorstellungen von Inklusion in der Koalition."
Eltern beklagen hohen Aufwand bei Schulwahl
„Wir stellen weder die Inklusion noch die Verordnung infrage", erklärt Frank Wagner von der CDU-Landtagsfraktion hierzu. „Allerdings sehen wir Handlungsbedarf, an einigen Stellschrauben zu drehen, um die Verordnung praktikabler zu gestalten."
Aus Wagners Sicht gibt es zwei Schwerpunkte, die für Abhilfe sorgen können. Zum einen spricht er sich für die Wiedereinführung des verbindlichen sonderpädagogischen Gutachtens aus, zum anderen dringt er auf einen raschen flächendeckenden Einsatz von multiprofessionellen Teams: „Das sonderpädagogische Gutachten hilft dabei, die nötigen Ressourcen besser zuzuordnen und die Lehrkräfte zu beraten, damit die Kinder so passgenau und bestmöglich unterstützt werden können." Es sei sinnvoll, dieses Gutachten im Bedarfsfall bereits in der Kita durchzuführen, damit die nötige Förderung so früh wie möglich greift und eventuell gar kein Besuch einer Förderschule nötig wäre. Auch beim Einsatz der multiprofessionellen Teams will Wagner bereits die Kitas mit einbeziehen.
Auch die SPD sieht sich, als Teil der Koalitionsregierung, der Kritik ausgesetzt. Auch sie will möglichst früh, bereits in der Kita, eine Förderung ansetzen. „Wir nehmen viel Geld in die Hand, etwa im Programm ‚Schule stark machen‘", erklärt Jürgen Renner von der SPD-Fraktion im Landtag. „Wir arbeiten im Moment auch an der Umsetzung der Multiprofessionalität an Schulen, eine wichtige Säule dabei ist die Schulsozialarbeit. Hier laufen derzeit auf allen Ebenen Gespräche, um zeitnah zu Verbesserungen zu kommen. Wenn wir Schulsozialarbeit flächendeckend in unserem Land und den Schulen etablieren wollen, muss das Land in die paritätische Finanzierung einsteigen. Im Koalitionsvertrag ist darüber hinaus das Kompetenzzentrum für Inklusion verankert, das werden wir in dieser Legislaturperiode noch umsetzen."
Lichtblicke für die Inklusion? Nach den Worten der Fraktionen zu urteilen haben sich die Regierungsparteien für die zweite Legislaturperiode in Sachen Inklusion einiges vorgenommen. Dabei propagiert die saarländische Regierung gern das Elternwahlrecht. Doch gibt es dies wirklich? Laut Traudel Hell nicht. „Derzeit gibt es die Wahl zwischen zwei schlechten Optionen – der Förder- oder Regelschule."
Wären die saarländischen Regelschulen gemäß den Anforderungen der Inklusion ausgestattet, hätten die Eltern tatsächlich die Wahl zwischen zwei echten Alternativen. So aber müssen sich die Eltern entscheiden, ob sie ihr Kind in eine schlecht dafür vorbereitete Regelschule oder eine nicht-inklusive Förderschule schicken sollen. „Wir fordern nicht das unmittelbare Ende des Zwei-Säulen-Modells – aber eine echte Wahl", betont Bernhard Strube. Die Entscheidung der Eltern für eine Förderschule unter den derzeitigen Bedingungen als politische Rechtfertigung dafür heranzuziehen, die Förderschulen in dieser Form beizubehalten, sei unlauter.
Und dennoch, es sei nicht alles schlecht – auch das will das Bündnis festgestellt wissen. Das Kultusministerium habe bereits einiges getan. Alleine die Umsetzung der Behindertenkonvention in Landesrecht sei ein Fortschritt; die Haltung gegenüber Inklusion habe sich ein Stück geändert, sagt Bernhard Strube. „Es gibt mittlerweile Fortbildungen, die sehr viel individueller auf die Erfordernisse der Inklusion eingehen." Es gebe Schulen, die ein Vorbild in Sachen Inklusion seien – zum Beispiel die Ganztags-Gemeinschaftsschule Neunkirchen, die Saarlouiser Vogelsangschule, die Grundschule Dellengarten und andere. „Aber es gibt auch andere", betont Strube, „die sich noch auf dem Weg von der alten Realschule zur Gemeinschaftsschule befinden." Gymnasien müssten stärker auf Inklusion ausgerichtet werden. Und dass die Landesregierung weiterhin separierende Systeme, ohne sie einander anzugleichen, aufrechterhalte, fördere die Inklusion nicht, sie behindere sie. Das Bündnis stellt außerdem fest, dass es eine weitreichende und umfassende Schul- und Unterrichtsentwicklung benötigt, um die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen endlich umzusetzen und den Eltern die Wahl zu erleichtern – und im besten Falle obsolet zu machen. Strube: „Das jetzige System fördert die Ungleichheit. Man kann die Werte der Demokratie nicht feiern, wenn sie nicht gelebt werden."