Thomas Hinrichsen ist einer der Macher von „Kiez und Kneipe", ein lokales Blatt, das sich mit Themen rund um Neukölln beschäftigt und gegen das drohende Auseinanderbrechen des Bezirks anschreibt.
Von ihm geht anfangs etwas Irritierendes aus. Wenn Thomas Hinrichsen erzählt, scheinen die Worte seinen Gedanken hinterherzujagen. Im Kopf ist der 63-Jährige so schnell, seine Einfälle schlagen solche Kapriolen, dass die Sätze manchmal Vollbremsungen machen müssen, um den Faden seiner Geschichten wieder aufzunehmen. Leise spricht er, viel hat er zu erzählen, denn viel hatte er bereits erlebt, bevor er 1999 in Berlin Fuß fasste. Aufgewachsen in Kiel, nach der Schule Anglistik, Philosophie und Volkskunde studiert, dann Jobs im Ruhrgebiet und Rheinland, Auslandsaufenthalt in Belfast und schließlich Endstation in Berlin, der Liebe wegen, nicht der einzigen.
Er ist ein Geschichtenerzähler, ein Rastloser, der erst im Neuköllner Schillerkiez endlich angekommen zu sein scheint. Sein Markenzeichen ist ein Stirnband von undefinierbarer Farbe und zweifelhaftem Zweck, aber ohne das geht er nicht aus dem Haus. Thomas Hinrichsen ist eine Type, ein bunter Vogel, und so einer legt sich eben ein Markenzeichen zu. Man trifft ihn zumeist abends im „Schillers", einer der wenigen noch verbliebenen Eckkneipen in dieser Gegend. Hier ist die Zeit in den 70ern stehen geblieben. Retrolook, nicht, weil das mal in sein könnte, sondern weil das Geld für Renovierungen fehlt. Im funzeligen Kneipenlicht sitzt Thomas Hinrichsen in einem tiefen Sessel oder auf der Ledercouch aus besseren Zeiten. Er liest, er schreibt, manchmal raucht er aus Gesellschaft eine mit. Ein, zwei Bier am Abend sind genug. Mit wachem Blick mustert er die Gäste, Bekannte meist, Zeit für ein Gespräch und Neuigkeiten bleibt immer. Im „Schillers" kann sich so was in die Länge ziehen, kein hektischer Betrieb, kein eitles Sehen und Gesehenwerden wie im alternativ lackierten Mittelstandparadies Prenzlauer Berg. Im verqualmten Hinterraum klacken Billardkugeln, ein zusätzlicher Heizkörper auf Rollen glüht gemächlich vor sich hin. Man darf rauchen, ohne in eine Diskussion über Lungenkrebs verwickelt zu werden, das Bier ist bezahlbar.
Hier ist die Zeit in den 70ern stehengeblieben
Zwar liegt die Wohnung von Thomas Hinrichsen nur einen Steinwurf entfernt über die Straße, aber das „Schillers" bezeichnet er selbst als sein zweites Wohnzimmer. Das sehen die meisten der Stammgäste auch so, und sie würden hier wohl sitzen bleiben bis zum Jüngsten Gericht. Im „Schillers" trotzen junge und alte Gäste dem Zeitgeist, hier sammelt sich das Unbehagen gegen die Moderne. Wer darüber spotten will, könnte die Eckkneipe mit einem altmodischen Terrarium vergleichen, in dem die letzten Leguane Zuflucht gefunden haben. Die Reptilien von gestern müssen ertragen, wie ihr ganzer Stadtteil für das hippe Morgen umkrempelt wird. Vielleicht ist da sogar was dran. Aber richtig ist auch: Angestammte Bewohner werden aus dem Kiez verdrängt, kleine Läden werden von Bioketten zur Aufgabe gezwungen, die traditionellen Kneipen verschwinden langsam. Draußen klappern die Rollkoffer der Touristen vorbei, auf dem Bürgersteig wird zwischen Spätis, Internetcafes und Wettbüros Latte macchiato und Aperol Spritz serviert, Tofu und Veganes auf der Speisekarte – mittlerweile eine andere Welt an vielen Ecken Nord-Neuköllns.
Zu den Nerds und Start-uplern gehört Thomas Hinrichsen ganz gewiss nicht, auch wenn er in der PR-Branche tätig ist. Bei ihm klingt das nicht gerade nach einem gut bezahlten Job in einer Werbeagentur. Manchmal läuft es gut, manchmal schlecht und meistens so lala. Er kommt über die Runden. Es gibt Zeiten, da ist er einfach nur Aufstocker wie viele hier. Früher verdiente er sein Geld auch als Sexarbeiter, aber das ist lange her. Noch immer berät er jene, die mit ihrem Körper Geld verdienen müssen, Männer wie Frauen. Stille Sozialarbeit.
Früher verdiente er sein Geld als Sexarbeiter
Was Thomas Hinrichsen sieht, was er hört, was man ihm zuträgt – er macht sich Notizen im Kopf, schreibt es später auf und meist wird ein Artikel daraus oder auch ein Gedicht für „Kiez & Kneipe". Diese kleine, ambitionierte Zeitung ist ihm wichtig, denn in ihr geht es um ganz handfeste Probleme im Kiez, und dann ist Schluss mit Lyrik. Seit zehn Jahren arbeitet Thomas Hinrichsen für „Kiez und Kneipe", ein Blatt im Schülerzeitungsformat, das einmal monatlich in einer Auflage von 3.500 Stück in Kneipen, Arztpraxen, Bibliotheken und bei Veranstaltungen verteilt wird. Gratis zum Mitnehmen und Weitergeben wie es unter dem Titel heißt. Die Idee kam auf im benachbarten Kreuzberg als die etablierten Berliner Tageszeitungen ihre Lokalberichterstattung schrumpften und die Alltagsprobleme der Bewohner einfach nicht mehr stattfanden. Gerade um die geht es aber den Machern von „Kiez und Kneipe", knapp zehn Männer und Frauen, unter ihnen Studenten, Künstler, ein ehemaliger Zahnarzt, eine Käseverkäuferin. Honorare gibt es nicht, die Kosten werden durch Anzeigen der lokalen Geschäftswelt hereingeholt, ein Nullsummenspiel. Über ein Bürgerbegehren gegen dreckige Schulen wird genauso prominent berichtet wie über Litfaßsäulen in Gefahr, eine neue Skulpturenausstellung bekommt so viel Platz wie ein Artikel über rechtsmotivierte Anschläge und Morddrohungen. Eine der beliebtesten und meistgelesenen Rubriken im Blatt sind die Fenstergespräche. Hier erzählen Neuköllner von ihren ganz persönlichen Beobachtungen und Problemen, Geschichten von unten, wie sie kein Reporter besser wiedergeben könnte. Auffallend jedoch: In der Redaktion arbeitet niemand mit Migrationshintergrund, kein türkischer oder arabischer Laden bucht eine Anzeige in „Kiez und Kneipe", Themen wie Clankriminalität finden im Blatt keinen Platz. Dabei sind über 50 Prozent der Nord-Neuköllner Bewohnern nichtdeutscher Herkunft. Thomas Hinrichsen und das Team von „Kiez und Kneipe" wissen, dass sie den überwiegenden Teil der Kiezbewohner nicht erreichen. Und manche Themen sind einfach zu groß für ein kleines Blatt. Integrations- und Verständigungsbemühungen hin oder her – Parallelgesellschaften sind in Neukölln die Realität. Wenn nicht hier, wo sonst? Das drohende Auseinanderbrechen des Bezirkes, die Auflösung von Gemeinschafts- und Bürgersinn ist vielfältig, man muss nur hinschauen: Was haben sie eigentlich noch miteinander zu schaffen – die Stammgäste aus dem „Schillers", die IT-Spezialisten in ihrem renovierten Altbaueigentum, die Türken und Araber in ihren Straßencafés, die alleinerziehenden Mütter auf den verwahrlosten Spielplätzen des Viertels? Manchmal formuliert Thomas Hinrichsen programmatische Sätze, gibt wieder, was die Redaktion eint. „Wir schreiben hier gegen das Auseinanderbrechen im Kiez an", sagt er. Ausrufezeichen!
Hinrichsen verteilt das Blatt selbst
„Kuckense rin, könnense mitreden" heißt es in der Dachzeile über dem „Kiez und Kneipe"-Titel. Und deshalb schnappt sich Thomas Hinrichsen jeden Monat einen frisch gedruckten Stapel der Zeitungen und dreht seine Verteilerrunde. Im Zeitalter von Multimedia hat das etwas ziemlich Altmodisches. Und was Authentisches und Aufrechtes. Zurück im „Schillers" bestellt er sich ein Bier und sinnt vor sich hin. Ob er jetzt über einen neuen Artikel nachdenkt oder über ein Gedicht, was ihm schon lange durch den Kopf geistert, das behält er vorerst für sich.