Das größte Risiko im Alter haben Selbstständige. Ihnen hilft die nun beschlossene neue Grundrente in aller Regel nichts. Die Regierung plant eine Versicherungspflicht.
Respektrente" ist das Wort des Jahres 2019, weil es, so die den Titel verleihende Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS), „das Jahr in besonderer Weise charakterisiert" habe. „Respekt vor der Lebensleistung" zollt die große Koalition künftig allen, die mindestens 35 Arbeitsjahre versichert waren, wobei wegen einer Gleitzone meist auch etwas weniger schon reichen wird. In der Praxis wird diese neue Grundrente vor allem Frauen in relativ schlecht bezahlten Berufen zugutekommen, deren Rente in etwa verdoppelt wird, allerdings nur bis maximal 80 Prozent der Durchschnittsrente und unter vielen Einschränkungen. Vor allem gibt es eine Obergrenze des Alterseinkommens für die Grundrente, nämlich 1.250 Euro, und 1.950 Euro für Paare. Wer darüber liegt, bekommt keine Grundrente. Damit soll verhindert werden, dass auch Ehepartner von gut verdienenden Menschen die Grundrente bekommen.
Zu viel muss man von der neuen Grundrente aber auch gar nicht verstehen, denn sie wird ab Januar 2021 automatisch gezahlt werden, vermutlich an 1,2 bis 1,5 Millionen Rentner. Dazu soll die Deutsche Rentenversicherung ihre Daten bei den Finanzämtern mit den Steuererklärungen aller Rentner vergleichen und entsprechende Daten sammeln. Ob das klappen wird, steht noch in den Sternen. Die Präsidentin der Deutschen Rentenversicherung, Gundula Roßbach, sagte kürzlich, allein schon die Ermittlung, wer von den 21 Millionen Rentnern 35 Jahre lang eingezahlt habe, sei „alles andere als trivial".
Viel wurde um die neue Grundrente gestritten. Ihr Ziel ist klar: Sie soll die Altersarmut bekämpfen helfen. Wie hoch diese wirklich ist, ist Definitionssache, die Zahlen schwanken je nach Definition zwischen einer halben Million und neun Millionen Menschen. Erst kürzlich warnte die Bertelsmann-Stiftung vor einem Anstieg der Armutsgefährdung im Alter von knapp 17 Prozent derzeit auf 21 Prozent in den nächsten 20 Jahren. Eine dramatische Zunahme ist das allerdings auch nicht gerade.
Probleme in Deutschland größer als bisher bekannt
Neue Zahlen machen nun deutlich, dass das eigentliche Risiko für Altersarmut weniger die angestellten Beschäftigten haben, auch wenn sie wenig verdienen, als vielmehr die Millionen Selbstständigen, von denen viele gar nicht rentenversichert sind, also nicht eingezahlt haben. Vor allem in den neuen Branchen wie den Medien, der Internet-Wirtschaft, im Versandhandel und der Gig-Economy hangeln sich viele von Job zu Job, ohne an eine vernünftige Absicherung fürs Alter zu denken – oder denken zu können.
Nun zeigt ein neuer OECD-Bericht, dass das Problem in Deutschland größer ist als bislang bekannt. In keinem anderen Mitgliedsland der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sind Selbstständige so schlecht abgesichert wie in Deutschland: Sie bekommen im Alter im Schnitt (Median) knapp 50 Prozent weniger als ein Festangestellter. Und das liegt nicht daran, dass sie auch während des Berufslebens weniger verdienen, sondern am System der Versorgung selbst. Im Schnitt der OECD-Länder beträgt diese Lücke zwischen den Renten der Angestellten und der Selbstständigen nur etwa 20 Prozent, in manchen Ländern, wie Dänemark, existiert sie praktisch nicht. „Das erscheint paradox angesichts der Tatsache, dass Rentensysteme normalerweise eine Tendenz zur sozialen Umverteilung im Alter haben", schreiben die OECD-Ökonomen in ihrem neuen jährlichen Rentenbericht.
Die Ökonomen stellen fest: Nur vier OECD-Länder haben keine Rentenversicherungspflicht für Selbstständige – Deutschland ist eines davon. Da Selbstständige nur zu einem sehr kleinen Teil in der öffentlichen Rentenversicherung versichert sind, geschweige denn 35 Jahre, werden sie auch praktisch nicht von der neuen Grundrentenregelung profitieren.
Die Zahlen zeigen deutlich, dass hier ein weiteres Problem der Altersversorgung auf die Regierung zurollt. Denn die Zahl der sogenannten atypisch Beschäftigten steigt in Deutschland, wie auch sonst in der Welt. Dazu zählen neben den Selbstständigen auch die Teilzeit- und befristet Beschäftigten. In der gesamten OECD, also in den entwickelten Ländern der Welt, beträgt deren Anteil inzwischen ein Drittel.
Eigentlich gute Gründe dafür, sich um die Altersversorgung der Selbstständigen zu kümmern. Tatsächlich hat die große Koalition sich das eigentlich auch vorgenommen. Sie will laut Koalitionsvertrag eine „,Altersvorsorgepflicht für alle Selbstständigen einführen, die nicht bereits anderweitig obligatorisch abgesichert sind." Im Frühjahr hatte Arbeitsminister Hubertus Heil einen Vorschlag erarbeiten lassen, der bei den beratenden Fachleuten auf Zustimmung stieß. Eigentlich wollte er einen Gesetzesvorschlag noch in diesem Jahr präsentieren.
30 Prozent der Solo-Selbstständigen von Altersarmut bedroht
Allerdings ist die Versicherungspflicht bei den Betroffenen selbst umstritten: Die gut verdienenden Selbstständigen sind meist privat sehr gut abgesichert, haben sich vielleicht eine Immobilie gekauft. Sie befürchten, dass sie durch eine Zwangsversicherung andere mitfinanzieren müssten. Manche der jungen, schlecht verdienenden Selbstständigen dagegen sehen mit Sorge, dass sie gar nicht liquide wären, Rentenbeiträge zu leisten, selbst wenn es langfristig gut für sie wäre. So fordert der Verband der Gründer und Selbständigen (VGSD), dass eine solche Pflicht nur für neue Selbstständige gelten dürfe, nicht für die insgesamt derzeit schon 3,5 Millionen. Der Verband fordert, dass die sehr vielfältige Altersvorsorge bestehender Selbstständiger anerkannt wird und nicht doppelt gezahlt werden muss.
Das Problem dieser Gruppe sieht auch die OECD: Die Gruppe der Selbstständigen sei „äußerst heterogen". Da gibt es auf der einen Seite Ärzte und Notare, auf der anderen Seite scheinselbstständige Dienstleister, oder Fotografen, Journalisten und Künstler. Letztere sind in der Künstlersozialkasse abgesichert.
Klar ist, dass ein erheblicher Teil dieser Selbstständigen im Alter große finanzielle Probleme haben wird. Sie dürften dann auf Grundsicherung angewiesen sein. Davon profitiert jeder, der sonst unter das Existenzminimum rutschen würde. Von der neuen Grundrente haben sie nichts. Knapp 30 Prozent der Solo-Selbstständigen liegen in einem unteren Einkommensbereich bis 1.100 Euro Nettoeinkommen, so die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Anfrage der Linken. Für diese Gruppe ist das Risiko der Altersarmut akut.
Diese unterschiedlichen Interessen unter einen Hut zu bekommen, dürfte keine leichte Aufgabe sein. Da lohnt der Blick auf Nachbarländer, die Deutschland bei neuen Arbeitsmodellen und dem Umgang mit ihnen in der Altersversorgung einiges voraus haben. So ist der Anteil der Selbstständigen und der Teilzeitbeschäftigten in den Niederlanden sehr viel höher als in Deutschland. Das hätte für diese Gruppe einige Konsequenzen im Alter zur Folge. Doch die Niederlande haben vorgesorgt mit einer Grundrente für alle: Etwa 1.200 Euro bekommt man dort, wenn man 50 Jahre im Land gelebt hat. Das Ergebnis ist, dass es so gut wie keine Altersarmut gibt, die Armutsquote unter Senioren beträgt dort nur 3,1 statt 8,3 Prozent in der Gesamtbevölkerung. In Deutschland liegt die Armutsquote bei Senioren mit 9,6 gegenüber 10,4 Prozent in der Gesamtbevölkerung in etwa gleich hoch. Deutlich höhere Armutsquoten gibt es in Großbritannien oder den USA.