Heiligabend im Kreise der Familie gehört zu den Höhepunkten des Jahres
Voller Vorfreude blicken wir schon auf Weihnachten mit seinen besinnlichen Stunden im Kreise der Familie. Wir schwelgen in Erinnerungen an frühere Festtage und sind absolut sicher, dass sich die familiäre Harmonie auch in diesem Jahr wieder einstellen wird.
Im Vorfeld gab es allerdings bereits das übliche Zerwürfnis wegen des von uns zuvor besorgten Tannenbaums. Die gewohnt vielschichtige Kritik der kompetenten Verwandtenschar – „zu voluminös", „zu mickerig" oder „zu grün" – spornt uns aber bei jedem Baumkauf nur aufs Neue an. Die Kompromisstanne wartet nun auf dem Balkon darauf, ob sich der Familienrat auf ihre Christbaumwerdung einigen kann.
Es wird uns heute noch warm ums Herz, wenn wir an den gelungenen Heiligabend des Vorjahres denken. Der morgendliche Streit mit dem Nachbarn über die Kehrordnung war nach drei Flaschen Nikolaus-Bock längst runtergespült, als nachmittags die Großfamilie ausgehungert bei uns einfiel. Nun gut, Tante Friedas nicht zu überhörende Bemerkung über Mutters „unmögliches Kleid" hätte nicht sein müssen. Es zeugt jedoch von unserer familiären Eintracht, dass die nachfolgenden Angiftungen aufhörten, als Klein-Olli eine teure Designervase vom Sideboard zog.
Überaus erfreulich war die große Hilfsbereitschaft aller Anwesenden beim Einsammeln der Scherben, wenngleich die Hausherrin deswegen den Festtagsbraten einen kleinen Moment lang aus den Augen lassen musste. Die etwas verfrühte Bescherung war dann in Form überdeutlicher Röstaromen im ganzen Haus zu riechen. Unser Bruder entzog sich wie üblich den kulinarischen Rettungsversuchen und dozierte stattdessen oberlehrerhaft über viel bessere Garmethoden wie Niedrigtemperatur und Sous-vide. Denn seit er dem Männer-Kochklub angehört, kocht er noch seltener als früher, kann aber jetzt kompetenter meckern.
Es spricht für unsere engen Familienbande, dass Onkel Herberts Bemerkung: „Macht nix. Eure Gans hat eh noch nie geschmeckt" folgenlos blieb. Die Köchin ist zum Glück keine Spur nachtragend und wird ihm das im Vorjahr spontan zurückbehaltene Weihnachtsgeschenk eben diesmal überreichen.
Wir hoffen nur, dass unsere Lieben bei der Geschenkewahl diesmal mehr Glück haben, damit gut gemeinte Anmerkungen wie „geschmacklos" oder „billige Aldi-Ware" nicht wie im Vorjahr wieder überhandnehmen. Wir selbst wurden mit einem zu großen Schlafanzug und einem Buch, das wir bereits dreimal hatten, so gut wie nicht enttäuscht. Und Cousin Hansi hatte mit seiner sorgsam ausgesuchten CD sogar hundertprozentig unseren Geschmack getroffen.
Bestimmt hätten wir wirklich sehr viel Freude daran gehabt – wenn wir eine Abspielmöglichkeit besäßen. Weil Großeltern heutzutage wissen, dass Enkel mit Federballschlägern nicht mehr hinterm PC hervorzulocken sind, bekam der fünfjährige Kevin vom vermutlich bereits leicht dementen Christkind gleich zwei Smartphones. Man kann die Kleinen schließlich nicht früh genug für die Zukunft (auf)rüsten.
Wenn das Auspacken beendet ist und jeder seine Einnahme-Ausgabe-Bilanz erstellt hat, werden die Umtausch-Belege ausgehändigt. Dann steht bei uns eigentlich ein gemeinsames Weihnachtslied auf dem Programm. In überwältigender Einstimmigkeit werden wir aber sicher auch diesmal auf den Gesang verzichten, um uns den Heiligabend nicht zu verderben. Stattdessen schauen wir vorm Essen immer gemeinsam die Familie-Heinz-Becker-Folge „Alle Jahre wieder" und lachen uns jedes Mal schief, weil sich diese Fernsehfamilie an Weihnachten so peinlich daneben benimmt. Danach wird immer in friedvoller Schweigsamkeit das Festmahl verzehrt und jede noch so berechtigte Kritik voller Rücksicht runtergeschluckt.
Es spricht also alles dafür, dass sich auch in dieser Heiligen Nacht die „beste Familie der Welt" – wie alljährlich lautstark bekundet wird – zum Abschied glückselig in den Armen liegt und sich in der Gewissheit trennen wird, dass Weihnachten ideal dazu geeignet ist, das Familienleben zu fördern. Öfter als einmal im Jahr ist eine solche Harmonie aber nicht auszuhalten!