Fünf Bücher hat sich die Redaktion für die Weihnachtszeit herausgesucht ‒ zum Kaufen, zum Lesen, zum Verschenken. Es ist für jeden Geschmack etwas dabei: spannende Thriller, skurrile Charaktere, heldenhafte Frauen und die Frage, was Heimat ausmacht.
„Herkunft"
„Herkunft" ist ein Buch über ein Land, das es nicht mehr gibt. Über ein Dorf, in dem nur noch 13 Menschen leben. Über eine Großmutter, deren Erinnerungen langsam vergehen. Und über einen Schriftsteller, der nach diesen Erinnerungen sucht. Der Vater, ein Serbe, die Mutter, eine bosnische Muslimin, verlassen mit dem Sohn zusammen Visegrad, sie fliehen aus einem „undenkbaren Krieg" und landen in Heidelberg. Der Sohn, Sasa Stanisic, wächst zwischen türkischen, bosnischen, russlanddeutschen, serbischen Jugendlichen auf, ihr zentraler Treffpunkt ist eine Aral-Tankstelle. Alle schleppen etwas aus ihrer Vergangenheit mit, Dedo entkam offenbar auf einem Traktor einem Minenfeld. Sie lernen zusammen Deutsch, und Sasa kämpft ständig mit den Lehrern, die nie begreifen, wo die vielen Häkchen über seinem Namen zu setzen sind.
Als er älter wird, kehrt er zurück ins zerstörte Visegrad, wo seine Großmutter noch wohnt, besucht das winzige Dorf, wo alles einmal angefangen hat, lernt Onkel Gavrilo kennen, und zusammen mit den Alten bringt er die Toten zum Sprechen. Eine Hornotter und ein kleiner roter Drache helfen ihm dabei. Ein Buch zwischen Weggehen und Ankommen, aus Episoden, manche nur eine Seite lang, zusammengehalten von der Kraft einer leichtfüßigen, poetischen Sprache. Volker Thomas
„Der zweite Schlaf"
Wir befinden uns in England im Jahre 1468. Fairfax, ein junger Priester, reitet durch unwegsames Gelände zu einem kleinen Dorf, um einen verstorbenen Amtsbruder zu beerdigen. Als er das Arbeitszimmer betritt, wo der Tote aufgebahrt ist, findet er in einer Vitrine einige merkwürdige Gegenstände: Kugelschreiber, Plastiktrinkhalme, Blechdosen und ein dünnes, schwarzes Objekt aus Glas und Plastik, das genau in eine Hand passt und auf dessen Rückseite ein Symbol eingeprägt ist: ein angebissener Apfel.
Wo sind wir hier? Das fragt sich spätestens jetzt der Leser. Und Kapitel um Kapitel enthüllt Robert Harris eine bizarre Geschichte. Offenbar sind wir in einer Zeit nach der Alten Welt gelandet, im Zeitalter des auferstandenen Christus, 800 Jahre nach der in der Offenbarung des Johannes vorhergesagten Apokalypse im Jahre 666. England ist entvölkert, die Kirche hat die alleinige Macht im Land, sie hat eine neue Zeitrechnung eingeführt, verbietet alles, was an die alte Zeit erinnert, verhängt drastische Strafen für Ketzer. In 800 Jahren sind die Straßen verschwunden, moderne Gebäude zerfallen, nur die steinernen Kirchen haben alles überdauert.
Fairfax, der junge Priester, gerät in einen Strudel von Fragen, Zweifeln und Entdeckungen. Bei dem verstorbenen Pfarrer findet er die Abhandlung eines Gelehrten namens Peter Morgenstern, die vor der Apokalypse verfasst wurde. Morgenstern sieht die Lebensweise seiner Welt massiv bedroht und zählt sechs Untergangsszenarien auf, darunter den Klimawandel und einen Cyberkrieg, also den Ausfall aller Computersysteme. Damit knüpft Harris an ein Szenario an, das schon öfter in Sachbüchern und Romanen ausgemalt wurde: den totalen Kollaps aller Versorgungslinien durch den Zusammenbruch der Computersysteme. „Es ist nicht übertrieben, zu behaupten, dass London (dann) nur sechs Mahlzeiten vom Verhungern entfernt ist", schreibt Morgenstern. Noch kein Autor aber ist wie Harris in seiner Dystopie den Weg so konsequent zu Ende gegangen. Volker Thomas
„Als ich jung war"
„Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen" – mit dem berühmten Zitat von William Faulkner lässt sich auch die Anlage von Norbert Gstreins neuem Roman „Als ich jung war" beschreiben, der 2019 den Österreichischen Buchpreis gewonnen hat. Erzählt wird die Geschichte von Franz, der in Tirol auf dem Gasthof seiner Eltern als Hochzeitsfotograf engagiert wird. Der Gasthof, scherzhaft als Hochzeitsfabrik tituliert, hat sich ganz auf diese Unternehmung verlegt – und somit bekommt Franz Paar für Paar vor die Linse und ein gutes Händchen dafür, im richtigen Moment das „Glück des Augenblicks" festzuhalten. Der plötzliche Todesfall einer Braut beendet seine Tätigkeit dann aber abrupt, Franz geht in die USA, wo er die kommenden 13 Jahre als Skilehrer im verschneiten Montana arbeitet. Auch hier kommt es aber wieder zu einem Schicksalsschlag: Sein persönlicher Schüler, der ältere Professor Moravec, bringt sich auf der Abfahrt um, indem er ungeschützt gegen einen Baum rast. Dass im Hintergrund eine unglückliche Liebesgeschichte stand, der Professor ungewöhnliche sexuelle Vorlieben und ein vor Franz völlig verborgenes Familienleben hatte, wird erst nach und nach klar. Zurück in Österreich hat der Bruder von Franz den Gasthof der Eltern übernommen und bringt die Hochzeitsfabrik wieder in Gang. Franz, ebenfalls von einem Skiunfall schwer lädiert, versucht in sein altes Leben zurückzufinden. Ein Kommissar, der den alten Todesfall von vor 13 Jahren nicht ruhen lassen will, macht ihm das Leben schwer. Gstrein verquickt in diesem hochspannend und raffiniert gebauten Roman Thriller-Elemente mit existenzialistischen Fragen: Wie viel wissen wir vom anderen? Wie erzählen wir uns unser eigenes Leben? Besonders macht den durchgehend aus der Ich-Perspektive erzählten Roman die nicht gerade zuverlässige Figur des Franz, der die Details immer nur scheibchenweise preisgibt und das Erzählte permanent in Zweifel zieht. Fabian Thomas
„Unerhörte Stimmen"
Für Frauen, die im Licht des Monds das Lied der Freiheit singen, gibt es keine Grenzen. Schreibt die in Straßburg geborene türkischstämmige Autorin Elif Shafak im Nachwort ihres aktuellen Romans „Unerhörte Stimmen". Und spielt damit auf ihre Großmutter, vor allem aber auf ihre Romanheldin „Tequila Leila" an, eine Istanbuler Prostituierte, deren Leiche auf einer Müllhalde am Rande der Metropole abgelegt wurde. Und die sich in ihren letzten Momenten an Schlüsselmomente ihres Lebens und an ihre fünf besten Freunde erinnert. Das sind – wie könnte es anders sein – allesamt Außenseiter der Istanbuler Gesellschaft und Geächtete. Der schüchterne Sinan, Spitzname „Sabotage", ein Klassenkamerad aus Leilas Heimat Van, der ihr nach Istanbul folgt, durch Kneipen, Bars und schließlich Bordelle streift, bis er seine alte Freundin findet. Die kleinwüchsige Zaynab aus dem Norden Libanons, die sich mühselig als Wahrsagerin durchschlägt, als Putzfrau im Bordell zu arbeiten beginnt. Und dort auf Leila trifft. Die wiederum in einer Klinik für Geschlechtskrankheiten die Somalierin Jamila kennenlernt, die in der Hoffnung auf gut bezahlte Arbeit nach Istanbul gelockt, jetzt im Bordell gelandet ist. Und dann wären da noch Nostalgie-Nalan, transsexuell und damit sowieso aus der türkischen Gesellschaft ausgegrenzt sowie Hollywood Humeyra, Sängerin in einem Nachtclub. Die Fünf – mehr Freunde dürfe man nach Leilas Meinung nicht erwarten – müssen ihre brutal umgebrachte Freundin identifizieren und beschließen in einer ebenso skurrilen wie waghalsigen Aktion, ihr im Tod den Respekt zukommen zu lassen, den man ihr im Leben versagt hat.
Elif Shafak beschreibt das Leben in der türkischen Millionenmetropole in all seiner Vielschichtigkeit und Brutalität. Lässt ihre Protagonistin Schlüsselmomente ihres Lebens erleben, indem sie sich an den Geruch würzigen Ziegeneintopfs oder den Duft von Kardamomkaffee erinnert. Und verleiht all den Abgehängten, Verachteten und Belächelten eine Stimme – und Würde. Sabine Loeprick
„Die Zeuginnen"
35 Jahre ist es her, dass Margaret Atwood ihren verstörenden Roman „Der Bericht der Magd" schrieb, ein Bestseller und feministisches Kultbuch. Und in dem Ich-Erzählerin Desfred ihr Leben als „Magd" im religiös-totalitären Staat Gilead schildert. Nach einer Umweltkatastrophe können nur wenige Frauen noch Kinder bekommen, sie sind die „Mägde", die die Kinder der „Kommandanten" zur Welt bringen. Volker Schlöndorff verfilmte den Stoff, vor zwei Jahren startete eine Serie mit dem Titel „The Handmaid’s Tale", die die Vorlage noch düsterer ausgestaltete. Nun ist die Fortsetzung des Romans im Buchhandel, ausgezeichnet mit dem renommierten Booker Prize. Die Handlung setzt 15 Jahre nach dem Ende des „Berichts der Magd" ein – Atwood montiert souverän die Stimmen dreier unterschiedlicher Frauen zu einem zunächst verwirrenden, aber dann immer dichteren Geflecht aus Erzählsträngen. Eine Bekannte trifft der Leser dabei wieder – ausgerechnet die im ersten Roman so unerbittliche „Tante Lydia", eine der Frauen, die die zu Gebärmaschinen degradierten „Mägde" kontrollieren sollen. Gerade ihr aber verleiht Atwood in „Die Zeuginnen" eine menschliche Seite, zeichnet ihre Geschichte als erfolgreiche Richterin, die nach dem Staatstreich zum neuen System „konvertiert". Die beiden anderen Frauen sind Daisy und Jemima. Die junge Daisy lebt in Kanada, erfährt nach einem tödlichen Anschlag auf ihre Eltern, dass diese sie nur als Pflegekind aufgenommen haben. In Gilead selbst folgen wir dem Mädchen Agnes Jemima, die bei einem Kommandanten aufwächst. Doch dann erfährt sie von Schulkameradinnen, dass der Kommandant und seine Frau keineswegs ihre Eltern sind, sondern dass sie die Tochter einer Frau ist, die versuchte aus Gilead zu fliehen. Bald wird klar, dass Daisy und Jemima Agnes die Kinder von Desfred sein müssen. Margaret Atwood hat einen temporeichen Roman aus unterschiedlichen Perspektiven geschrieben, mit düsterem Humor, aber genauso erschreckend wie der Vorgänger. Sabine Loeprick