Der Meeresbiologe, Verhaltensforscher und Tierrechtler Karsten Brensing erklärt im Interview, warum Tiere so fühlen und denken wie Menschen, räumt mit dem Delfin-Mensch-Mythos auf und spricht darüber, wie einst ein vermeintlich kluges Pferd die Tierforschung beeinflusste.
Herr Brensing, Sie sagen, dass Tiere nicht mehr Rechte erhalten, beruhe auf längst überholten Vorstellungen über diese. Wie müssen wir Tiere denn sehen?
Da muss man ein bisschen zurückgehen. Vor 150 Jahren wurde „Brehms Tierleben" veröffentlicht, das erfolgreichste Biologiebuch aller Zeiten, das aus einer sehr vermenschlichten Perspektive geschrieben wurde. Brehm hat sehr viele kognitive Fähigkeiten, die der Mensch hat, in Tiere reininterpretiert. Um die Jahrhundertwende 18./19. Jahrhundert waren die Menschen mit einem Tierbild ausgestattet, was tatsächlich sehr nah an der heutigen wissenschaftlichen Realität ist, aber sehr weit weg von dem, wie die Menschen heute Tiere sehen. Dazu gibt es eine interessante Geschichte. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es den „klugen Hans". Das war ein Pferd, das als ausgesprochen intelligent galt. Es konnte lesen, schreiben, rechnen, sich mit Menschen unterhalten, konnte komplexe Fragen beantworten, zum Beispiel, wie viele Männer in dem Raum einen Hut tragen.
Wie hat es denn kommuniziert?
Durch Klopfen mit dem Huf. Es gab zu der Zeit natürlich auch Trickbetrüger, die Tiere trainiert haben. Die konnte man aber relativ leicht entlarven, indem ein Fremder eine Frage stellte. Dann konnte das Tier nichts mehr. Bei dem „klugen Hans" war es anders, der konnte auch bei Fremden Fragen beantworten. Manche Wissenschaftler haben sogar an Telepathie geglaubt.
Was ja auch eine Sensation gewesen wäre …
Ja, klar (lacht). Es wurde dann damals eine Königlich-Preußische Untersuchungskommission eingerichtet, mit mehreren berühmten Wissenschaftlern. Die wollten diesem Pferd tatsächlich eine mit dem Menschen vergleichbare Intelligenz bescheinigen. Doch kurz vor Veröffentlichung des Abschlussberichtes machte ein Student noch einen weiteren Test: Er verband dem Pferd die Augen. Und plötzlich konnte das Pferd nichts mehr.
Schade …
Ja, wie man’s nimmt (lacht). Den Leuten wurde klar, dass sie fast einen riesigen Fehler gemacht hätten. Was die Forscher damals nicht in Betracht zogen war, dass der „kluge Hans" dazu fähig war, sich in andere Wesen hineinzuversetzen und ganz genau wahrzunehmen, wann es zu einer Anspannung beim Fragenden kam. Dies Fähigkeit nennen wir heute Theory of Mind und sie gilt als eine, wenn nicht sogar die, komplexeste geistige Fähigkeit.
Die fast falsche Bescheinigung war ein Schock in der Wissenschaft. Es wurde ausgiebig diskutiert, auch in der Presse. Nach diesem Ereignis hat sich über Jahrzehnte kaum ein Wissenschaftler getraut, etwas über Kognition bei Tieren zu veröffentlichen. Selbst der berühmte deutsche Forscher Wolfgang Köhler wurde erst 30 Jahre später, also in den 50er-Jahren, für seine bahnbrechenden Schimpansen-Experimente zu deren Werkzeuggebrauch geehrt.
Auf Grundlage dieser Erfahrung ist der Behaviorismus entstanden. Er reduziert Verhalten auf einfache Mechanismen. Die Konditionierung galt als einzige Lernform für Tiere und sollte auch beim Menschen viel Verhalten erklären. Es entstand ein Denkmodell, in dem Tiere zu sogenannten Blackboxes wurden. Spekulationen über ein Innenleben waren verboten. Man schaute sich nur Reize an, die reingehen, und Reaktionen, die rauskommen.
Aber diese Sichtweise hat sich verändert?
Es gab auch damals schon Kritiker, zum Beispiel Konrad Lorenz, die versucht haben, mit der sogenannten Instinkt-Theorie etwas mehr zu beschreiben. Und das haben wir heute im Kopf: Behaviorismus und Instinkt. Wir unterscheiden gern zwischen instinktgesteuerten Tieren und vernunftbegabten Menschen. Auf diesen beiden Säulen ruht unser Tierbild, auch die Grundlage für Gesetze, Gutachten und so weiter. Und beides ist falsch. Denn den Instinkt hat man nicht gefunden.
Das ist ja eine Überraschung!
Ja, da sind die Leute immer überrascht. Wir haben tatsächlich nichts gefunden, was dem Instinkt in irgendeiner Form entspricht.
Auch bei Tieren nicht?
Nein. Es gibt nur zwei Steuermechanismen: Denken und Fühlen.
Also die Wölfin, die sich im Frühjahr einen Partner sucht: Das ist kein Instinkt?
Nein, das ist Fühlen. Der Wille zur Fortpflanzung wird durch Hormone gesteuert und das löst ein Gefühl aus. Es gibt unzählige Beispiele. Einen Partner zu finden, ist mein Lieblingsbeispiel. In meinen Vorträgen frage ich dann, welches Organ bei der Partnerfindung am wichtigsten ist. Dann kommen tatsächlich viele auf die Nase. Und das stimmt, weil wir bei der Partnerwahl das Immunsystem riechen, was dem unseren nicht zu ähnlich und nicht zu weit entfernt ist. Das hilft, fittere Nachkommen zur Welt zu bringen. Und das macht zum Beispiel der Stichling, ein Fisch, genauso. Es ist bei allen Wirbeltieren so, die ein adaptives Immunsystem haben, also eines, das lernt und Informationen bewahrt.
Der Mensch ist ja auch ein Tier, oder?
Es ist widersinnig, was anderes anzunehmen. Und die Idee, dass Tiere nichts empfinden können, ist so was von absurd, weit weg von jeder Realität. Die Mechanismen, die diesen Stichling steuern, fühlen sich für ihn genauso an, wie es sich für uns anfühlt. Es sind dieselben Neurotransmitter beteiligt, es wird dasselbe Verhalten ausgelöst, dieselben Mechanismen, es kann sich gar nicht anders anfühlen. Gerade bei Fühlen ist ein gewisses Maß an Vermenschlichung ausgesprochen angebracht.
Gibt es dafür noch andere Beispiele?
Ja. Zum Beispiel das Hormon Oxytocin, das Bindung kontrolliert und Nähe herstellt. Es wurde bei stillenden Frauen entdeckt, und auch bei Milchkühen. Das Hormon wird produziert, um den Milchfluss anzuregen und wird bei der Geburt in hohen Maßen produziert. Und es schafft Bindung und erhält sie.
Dann ist es für die Milchkuh, wie Tierschützer betonen, doch genauso schlimm, wenn ihr das Kalb weggenommen wird?
Nehmen Sie einer Frau ihr Baby weg, dann fühlt es sich für sie genauso an wie für eine Kuh. Es kann sich gar nicht anders anfühlen, weil wir so gebaut sind. Das Argument, eine Kuh könne nicht darüber nachdenken und es deshalb nicht so empfinden, ist absolut fraglich. Einerseits wissen wir nicht genau, ob eine Kuh über sich nachdenken kann. Ratten zum Beispiel können das. Und andererseits könnte uns das Darübernachdenken sogar helfen, über diese negativen Gefühle hinwegzukommen.
Verhalten wird aus gutem Grund gesteuert. Wenn ein bestimmtes Gefühl ein Verhalten auslöst, dann geschieht dies damit das Tier seine Situation verändert und dafür sorgt, dass es ihm besser geht. Und das ist in dem Moment: Ich muss mein Baby wiederfinden! Ich muss es rufen, ich muss ausrasten, ich muss ausbrechen, ich muss alles dafür tun, dass ich meine Nachkommenschaft sichere. So sind wir evolutiv programmiert.
Wenn man sich das vor Augen hält: Dürfen wir denn Tiere überhaupt nutzen?
Ich denke, das ist unter den gegebenen Umständen fraglich. Ich will aber nicht ausschließen, dass man ein faires Miteinander hinbekommt. Aber Tiere müssten dann ein Leben führen, dass sich für sie lebenswert anfühlt.
Wie könnte das aussehen?
Es ist falsch, anzunehmen, dass es jemanden, der keine Schmerzen hat und nicht leidet, gutgeht. Man muss sich anschauen, was Wesen zu Verhalten treibt. Da ist die Vermeidung von Schmerz und Leiden ein winziger Bruchteil an Verhaltensmaßnahmen. Viel wichtiger sind Steuermechanismen, die im Alltag permanent zum Tragen kommen, die zum Beispiel dafür sorgen, Freude an der Nahrungsbeschaffung zu haben. Freude und Spaß sind ganz wichtige Steuerungsmechanismen. Das wird komplett ignoriert. Die Spaßforschung ist bei Tieren ein relativ neuer Bereich. Aber man stellt fest, dass es nicht nur spielende Hunde gibt, sondern man entdeckt diese Mechanismen auch bei Vögeln, sogar bei Reptilien und Fischen. Man hat dazu eine weitreichende Entdeckung gemacht: Das Belohnungssystem belohnt nicht den Erfolg, sondern das, was zum Erfolg führt. Wenn man das Belohnungssystem im Gehirn blockiert, dann hören Vögel auf zu singen, Säugetiere hören auf zu spielen und Menschen hören auf zu arbeiten, weil der innere Antrieb fehlt. Hier muss die artgerechte Haltung überprüft werden.
Trotz der wissenschaftlichen Erkenntnisse tut sich der Gesetzgeber hierzulande mit Tierrechten schwer. Warum?
Meine Bücher sind voll von Beispielen, die überraschend sind. Die Menschen haben heute ein falsches Bild von Tieren. Auf der Kant’schen Idee, dass der Mensch rational denkt und deshalb etwas Besonderes ist, fußt unsere Kultur. Wir müssen nicht nur Tierrechte ernster nehmen, sondern wir müssten auch unsere Kultur ändern. Wir müssten von unserer Krönung-der-Schöpfung-Idee wegrücken. Natürlich darf man auch nicht unterschätzen, dass viele Menschen ihren Lebensunterhalt mit der teils brutalen Ausbeutung von Tieren verdienen.
Und wie sieht es mit dem Denken bei Tieren aus?
Denken besteht aus verschiedenen Komponenten, da gibt es zum Beispiel logisches Denken, abstraktes Denken, strategisches Denken, Kategorienbildung und so weiter. Das logische Denken kann man mit Tieren ganz leicht testen. Zum Beispiel zeigt man Wildtieren zwei Kisten – in einer raschelt es, in der anderen nicht. Tiere mit logischem Denken gehen immer zu der raschelnden Kiste und schauen, ob sie irgendetwas gebrauchen können. Das ist logisches Denken! Wenn es in
einer Kiste rappelt, dann muss da was drin sein. Jeder, der den Test zum logischen Denken besteht, kann logisch denken, alles andere wäre unlogisch. Es gibt auch Tiere, die Tests zu abstraktem Denken bestehen. Dann gibt es noch Metakognition: Das Denken über das Denken. Wenn Tiere sich im Spiegel erkennen und gleichzeitig über Metakognition verfügen, dann kann man sagen: Diese Tiere müssten in ihrer Selbstwahrnehmung mit uns vergleichbar sein. Aber im Alltag spielt das vermutlich eine untergeordnete Rolle, denn wir denken ja auch nicht ständig über uns nach, und daher glaube ich, dass sich viele Tierarten im Alltag ganz ähnlich empfinden wie wir uns.
Können Tiere über sich selbst nachdenken?
Nicht alle, aber immer mehr Tiere bestehen den Test auf Metakognition. Zum Beispiel Ratten. Sie können über sich selbst reflektieren. Und manche Affenarten, Elefanten und Delfine auch.
Apropos Delfine. Die Menschen sehen in den Delfinen oft Tiere, die eine magische Beziehung zum Menschen haben. Sie haben da anderes herausgefunden …
In meinen Forschungen habe ich herausgefunden, dass die Tiere kein großes Interesse an uns haben, sondern versuchen, wegzuschwimmen. In Schwimmprogrammen entzieht sich das aber der menschlichen Wahrnehmung, denn unser Auge springt von einer Bewegung zur nächsten. An einem Becken mit Delfinen und Menschen hat man den Eindruck, dass immer ein Delfin in der Nähe von einem Menschen ist. Darauf fällt man rein.
Dann muss Delfinschwimmen aber stark infrage gestellt werden.
Man sollte es besser meiden. Die Schwimmprogramme sind kritisch. In Becken sind sie komplett nicht zu empfehlen, auch weil Delfine da überhaupt nicht artgerecht gehalten werden können. Auch Meerwassergehege sind kritisch. Ich kenne keine Delfinanlage, die korrekt funktioniert.
Man hört aber ab und zu von Delfinen im offenen Meer, die sich Schwimmern nähern.
Im freien Meer kommen Delfine tatsächlich manchmal an, aber dann muss man sich fragen warum. Manchmal kommen sie aus Langeweile oder weil sie gerade im Spielmodus sind. Vielleicht kommen sie aber nur, weil sie schauen wollen, ob da jemand Gefährliches ist. Meistens sind sie dann auch schnell wieder weg.
Als Meeresbiologe setzen Sie sich seit Langem auch gegen die sogenannte Lärmverschmutzung im Meer ein. Wie ist da der Stand der Dinge?
Das ist ein Albtraum. Es gibt eine europäische Direktive, die dafür sorgen soll, dass 2020 in europäischen Gewässern ein „guter Zustand" in den Meeren herrscht. 2020 wird man feststellen, dass er nicht erreicht ist. Die Staaten sind nach dieser Direktive verpflichtet, den „guten Zustand" bis 2020 zu erreichen. 2020 werden die Staaten an die europäische Kommission melden, dass sie alles getan haben, aber es trotzdem nicht erreicht haben. Die EU wird dann vermutlich den Staaten noch mehr Zeit geben. Die Schiffe sind nicht leiser geworden. Und es sind durch die Offshore-Windkraftanlagen extreme Lärmverschmutzer dazugekommen.
Besonders für die Wale ist das schwierig.
Schiffe produzieren auch tiefe Geräusche, die liegen auf dem Frequenzband der großen Wale. Das Wasser ist gerade im tiefen Bereich ein extrem guter Leiter. Die Reichweite für die Kommunikation der Wale wird durch den Lärm von 1.000 bis 2.000 Kilometer auf 100 bis 200 Kilometer reduziert. Dadurch finden sich die Wale nicht schnell genug. Walarten, die eine kleine Population haben und die sich in einem Ozeanbecken treffen müssen, damit sie sich fortpflanzen können, haben natürlich ein Problem.