Nicht nur in Deutschland werden Amateur-Schiedsrichter Opfer gewaltsamer Übergriffe. Auch in England häufen sich die Fälle. In den Niederlanden hat man Maßnahmen ergriffen.
Nicht nur in den Niederlanden war der 2. Dezember 2012 einer der schwärzesten Tage des Fußballs. Richard Nieuwenhuizen sprang beim B-Jugend-Spiel SC Buitenboys gegen Nieuw Sloten als Linienrichter ein. Nach einer umstrittenen Abseitsentscheidung stürmen nach dem Abpfiff sechs Spieler der Gästemannschaft im Alter zwischen 15 und 16 auf den Linienrichter los, sogar der Vater eines Spielers schließt sich den Spielern an. Sie schlagen ihn zu Boden, treten ihm mehrmals gegen den Kopf. Es verging kein Tag, da erlag der 41 Jahre alte Amateur-Schiedsrichter in einem Krankenhaus an den Folgen einer Hirnblutung. Alle, die an dem Angriff beteiligt waren, werden später wegen Totschlags zu Haftstrafen verurteilt. Seit dieser Tragödie ist in den Niederlanden die Zahl von 485 Vorfällen auf knapp unter 300 gefallen. So kommuniziert es der KNVB, sozusagen der DFB der Niederlande: „Jeder Vorfall ist einer zu viel. Es gibt 750.000 Spiele pro Jahr, und leider sind darunter gelegentlich Partien, bei denen unsportliches Verhalten vorkommt oder Gewalt angewendet wird. Wenn das passiert, auf oder neben dem Fußballplatz, ist das beunruhigend. Und wir ergreifen Maßnahmen dagegen", sagt ein Sprecher. Der Verband verweist auf Initiativen zur Gewaltprävention, die nach Nieuwenhuizens Tod 2012 ins Leben gerufen worden seien, insbesondere für Jugendspieler. So arbeitet der KNVB mit der niederländischen Organisation „Halt" zusammen, die sich dem Kampf gegen Jugendkriminalität verschrieben hat. Jugendspielern, die wegen gewalttätiger Übergriffe gesperrt worden sind, wird ein Verhaltenstraining angeboten. Durchlaufen sie es erfolgreich, wird ein Teil ihrer Sperre zur Bewährung ausgesetzt.
Die niederländischen Schiedsrichter haben die Möglichkeit, sich unter einer Notfallnummer rund um die Uhr zu melden, wenn sie Opfer von Gewalt geworden sind. In Kooperation mit dem KNVB bietet die Organisation „24/7" seit Jahren Hilfe für traumatisierte Fußball-Schiedsrichter an. Allgemein nehme die Aggression zu, sagt ein Vertreter von „24/7" der Deutschen Welle (DW). In einigen Fällen würden nicht nur Schiedsrichter bedroht, sondern auch deren Familien, sodass auch die Angehörigen psychologische Hilfe benötigten. Die Aggression nimmt also zu, auch wenn Zahlen abnehmen. Wie in Deutschland, wo die Zahl der Schiedsrichter seit 2010 kontinuierlich gesunken ist, registriert auch der niederländische Verband einen Rückgang. „Aber es wäre zu weit gegriffen, dies auf eine zunehmende Bedrohung zurückzuführen", erklärt der KNVB.
Rückgang der Gewalt in den Niederlanden
Bei einem Vergleich der Niederlande mit dem Mutterland des Fußballs wird klar – dort ist die Lage noch ernster. Ende 2018 wurde in einer Studie der Universität Portsmouth die deutliche Schieflage sichtbar. Schiedsrichter wurden befragt, ob sie in allen oder zumindest jedem zweiten oder dritten Spiel verbal angegriffen würden. Während in den Niederlanden nur rund 2,2 Prozent der befragten Referees die Frage bejahten, waren es in Frankreich 14,4 Prozent. In England bejahten im Jahr 2015 sogar rund 60 Prozent der Schiedsrichter diese Frage. Streiks von Amateur-Schiedsrichtern – wie zuletzt in Berlin und Köln – gab es auch schon in England. An einem Wochenende Anfang März 2017 weigerten sich mehr als 2.000 Referees, Spiele zu pfeifen. Sie protestierten damit gegen die zunehmende Gewalt gegen Schiedsrichter. Im Januar 2019 drohten englische Amateur-Schiedsrichter erneut mit einem Streik, um auf die aus ihrer Sicht nach wie vor dramatische Lage auf der Insel aufmerksam zu machen. Sie bezweifelten die Angaben der Football Association (FA) – die diese jetzt auch auf Anfrage der DW wiederholte: Im Schnitt, so der englische Fußballverband, gebe es nur in 0,01 Prozent der rund 850.000 Saisonspiele, sprich etwa 85 Partien, Angriffe gegen Schiedsrichter. Anfang des Jahres hatte die Ref Support UK, eine Hilfsorganisation für Schiedsrichter, Alarm geschlagen. In den vergangenen fünf Jahren habe sich die Lage verschlimmert, sagte die Vorsitzende Janie Frampton, selbst Schiedsrichterin: „Ich fürchte, es muss erst etwas sehr Schlimmes passieren oder ein Todesfall, bevor irgendjemand das Ganze ernst nimmt." Den Todesfall gab es in den Niederlanden schon. Auch in Deutschland wird eifrig diskutiert, wie dieses Problem zu greifen ist. Gewalt gegen Schiris war eines der bestimmenden Themen der letzten DFB-Tagung. Aber was soll in Deutschland getan werden, um diese Unsitte wieder aus dem Fußball zu entfernen? Ganz unten ansetzen bei den Kindern und Jugendlichen, rät der Philosoph und Sportwissenschaftler Gunter Gebauer. Und: ganz oben. „Die Bundesliga ist ein schlechtes Vorbild. Man sieht ja öfter, wie Trainer und sogar Nationalspieler die Schiedsrichter anschreien", sagte der 75-jährige Berliner der Deutschen Presse-Agentur. Der jüngste Fall, als während des südhessischen Kreisliga-Spiels FSV Münster – TV Semd der 22-jährige Unparteiische bewusstlos geschlagen und mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus gebracht wurde, hat abermals bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. „Es war nicht nur ein Angriff auf mich als Schiedsrichter. Das war ein Angriff auf unseren Amateurfußball", sagt das Opfer.
Experte sagt: „Die Bundesliga ist ein schlechtes Vorbild"
In Berlin streikten die Schiedsrichter, weil sie endlich ein Zeichen setzen wollten gegen die Verrohung der Sitten. Ebenfalls schon Opfer eines tätlichen Angriffs war Simon Henninger – Gehirnerschütterung und 1.000 Euro Schmerzensgeld inklusive. Der 19-jährige Student aus Bad Soden pfeift längst wieder, inzwischen in der siebten Liga. Für 30 Euro pro Partie, plus Fahrgeld. „Mir wird dabei zu wenig lösungsorientiert diskutiert. Es ist megaschade, dass man Spieler, Trainer und Schiedsrichter nicht als eine Fußball-Gesellschaft sieht, dass nicht alle an einem Strang ziehen", sagt Henninger. Er betrachtet auch das Verhalten der Profis als eine Ursache des Dilemmas. Das ewige Schimpfen und Protestieren, die Schwalben, das Zeitspiel, sich nach harmlosen Remplern am Boden wälzen –
all das wird den Kickern aus den unteren Ligen jede Woche im Fernsehen vorgeführt. „Was da passiert, wird nach unten durchgereicht", sagt Henninger. Währenddessen solidarisieren sich die Spitzenreferees in einem Video mit den Amateur-Schiedsrichtern. „Wir lassen Sie nicht allein", versicherten die Verbandsoberen um DFB-Präsident Fritz Keller in einem Brief an die Unparteiischen landauf und landab. Von den Staatsanwaltschaften und der Polizei wünsche man sich „mitunter einen größeren Ermittlungseifer, wenn es um Straftaten auf dem Fußballplatz geht". Für Funktionäre, die an der Basis darum kämpfen, Schiedsrichter bei der Stange zu halten, ist das nicht genug. „Ich erwarte Handlungsempfehlungen und dass es einen Schulterschluss gibt zwischen allen Beteiligten", sagte Andreas Thiemann, Vorsitzender des Schiedsrichterausschusses des Westdeutschen Fußballverbandes. „Man muss auf jeden Fall in der Jugend ansetzen", sagt auch Thiemann. „Viele sehen den Sportplatz als rechtsfreien Raum", beklagt der 50-Jährige aus Moers. Die Zahl der Schiedsrichter-Anwärter in seinem Landesverband Niederrhein sei zwar stabil, „aber viele hören sehr schnell wieder auf".
In den unteren Kreisklassen kann er nicht mehr alle Spiele besetzen. „Dann müssen die Vereine einen stellen, der pfeift. Ob da gemeldet wird, was alles passiert, das wage ich zu bezweifeln." Bernd Schultz, Präsident des Berliner Fußball-Verbandes (BFV), sieht eine „hohe Verunsicherung" bei den Unparteiischen. „Das nehme ich sehr ernst", sagt er. „Es muss nicht erst zum Schlimmsten kommen." So wie 2012 in den Niederlanden. Der ehemalige Bundesliga-Schiedsrichter Knut Kircher sieht Handlungsbedarf, um die aufkommende Gewalt gegen Fußball-Referees vor allem in Amateurspielen zurückzudrängen. „Das ist nicht nur ein Fußball-, sondern ein gesellschaftliches Thema", sagte der 60-Jährige.
„Es wird nach unten durchgereicht"
Kircher weiter: „Es ist ein schleichender Prozess. Es fehlen der Respekt, der Umgang, die Selbstverständlichkeit, dass die Gewalt im Fußball nichts zu suchen hat." Der ehemalige Spitzen-Schiri des Deutschen Fußball-Bundes appellierte: „Das ist Fußball, keine Kontaktsportart, kein Kontaktwettkampf, wo exzessive Gewalt Mittel zum Sieg ist. Es soll Spaß machen, allen Beteiligten Spaß machen, Zuschauern, Spielern und Schiedsrichter, da müssen wir wieder hinkommen."