Wenn in der Weihnachtszeit Ruhe einkehrt und Familie und Freunde zusammenkommen, werden vielerorts die Spiele wieder ausgepackt. Warum aber spielt der Mensch eigentlich, und wieso ist es nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene sinnvoll?
Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt", hat schon Friedrich Schiller gesagt. Und tatsächlich wird rund um den Globus über alle Kulturen und Altersklassen hinweg gespielt. Von Fußball übers Puzzle hin zu Computerspielen oder den an ruhigen Ferientagen besonders beliebten Gesellschaftsspielen. Während bei Kindern das Spielen als völlig normal gilt, wird es bei Erwachsenen schnell als ineffizientes und eher nutzloses Freizeitvergnügen betrachtet. Aber stimmt das wirklich? Warum spielt der Mensch, und was bringt das Spiel in uns zum Vorschein?
Um das zu verstehen, muss man in der Geschichte etwas zurückspulen. Schon bevor der Homo sapiens existierte, haben Säugetiere angefangen, zu spielen. Tiere lernen und trainieren dadurch Verhaltensweisen, die überlebenswichtig sind. Pferde toben beispielsweise über die Wiese, um die Flucht vor Raubtieren zu trainieren, und Raben spielen miteinander Fangen, um die Muskeln und Reflexe zu verbessern. Niemand aber spielt so viel wie der Mensch. Der Entwicklungspsychologe Rolf Oerter argumentiert in seinem Buch „Psychologie des Spiels", dass gerade der Mensch besonders auf das Spielen angewiesen ist. Er führt das darauf zurück, dass sich kein anderes Säugetier so langsam entwickelt und so vielfältige Herausforderungen zu meistern hat. „Je länger die Entwicklungszeit bis zum Erwachsenenalter dauert, desto bedeutsamer und vielfältiger wird das Spiel", sagt Oerter. Als Spiel gilt ihm zufolge alles, das um seiner selbst willen betrieben wird. Spielen ist nicht fürs unmittelbare Überleben notwendig, es geschieht immer freiwillig und außerhalb des Alltags. Spiel ist damit Verhalten ohne Zweck, aber nicht ohne Sinn.
Spiel wird immer vielfältiger
Denn das Spiel ermöglicht es Kindern, durch Versuch und Irrtum zu lernen, wichtige Kenntnisse über das Leben und die Welt zu gewinnen und teils überlebenswichtige Fähigkeiten auszubauen. Babys etwa entdecken im Funktionsspiel sich selbst und Fähigkeiten wie Greifen, Schmecken und Hören. Im zweiten Lebensjahr setzen sich Kinder erstmals Ziele und erschaffen im Konstruktionsspiel eigene Objekte, bauen beispielsweise einen Turm aus Bauklötzen. Mit zwei Jahren dann kann im sogenannten Als-ob-Spiel aus dem Bauklotz auch mal ein Telefon werden, weil sich die Vorstellungskraft entwickelt. Mit drei bis vier Jahren spielen Kinder nicht mehr hauptsächlich allein, sondern immer öfter auch mit anderen. Rollenspiele stehen nun häufig auf der Tagesordnung. Kommen die Kleinen in die Schule, werden Gesellschaftsspiele wichtiger, in denen es erstmals auch um die Einhaltung von Regeln geht. Kinder lernen durch das Spielen, nach welchen Regeln das Zusammenleben funktioniert. Laut Oerter ist Spielen für Kinder zudem auch Lebensbewältigung. Dadurch, dass sie nachspielen, was ihnen passiert, kompensieren sie die eigene Ohnmacht. Dabei erschaffen sie immer komplexere Spielwelten, in denen sie selbst die Regeln festlegen. Vor allem im Zusammenspiel mit anderen Kindern ist der Lernfaktor hoch. Kinder lernen dadurch den Umgang mit eigenen Gefühlen – auch beispielsweise den mit aggressiven Impulsen, wenn etwas nicht nach ihren Wünschen funktioniert, oder mit den Misserfolgen. Außerdem können sie die eigenen Grenzen und die der anderen Kinder erproben und kennenlernen. Dadurch können die Kleinen emotionale Intelligenz entwickeln, die ihnen auch im späteren Leben nützlich sein wird. Forschungen zufolge sollen Kinder bis zum Alter von sechs Jahren jeden Tag zwischen sieben und acht Stunden lang spielen. Weil Spielen für die Entwicklung so wichtig ist, ist es laut UN-Kinderrechtskonvention auch ein Grundrecht von Kindern und in der UN-Kinderrechtskonvention 1989 festgehalten.
Spielpsychologen gehen gar davon aus, dass Kinder mit Spieldefiziten später zu sozialen Außenseitern werden können. Der amerikanische Spielpsychologe Stuart Brown hat den Fall des amerikanischen Amokläufers Charles Whitman untersucht. 1966 verschanzte sich dieser auf dem Dach eines Gebäudes der Universität von Texas und tötete 19 Menschen. Der Psychologe fand heraus, dass Whitman von seinem strengen Vater misshandelt und am Spielen gehindert wurde. Nach weiteren Studien mit 8.000 Strafgefangenen gelangte Brown zu der These, dass ein Spieldefizit ein möglicher Auslöser für Aggressionen sei.
Erwachsene spielen seltener
Der Spieltrieb der Kinder lässt mit dem Beginn der Pubertät nach. Erwachsene spielen sehr viel seltener und manche gar nicht mehr. Sie sind es gewöhnt, im Alltag ihren Aufgaben nachzugehen, und agieren oft in einem engen Zeitrahmen, der kaum Platz zum Spielen lässt. Dabei ist das Spielen auch für sie von Bedeutung. Spielen macht zum einen Spaß, es erfrischt und bringt neue Energie. Im Spiel fühlen sich die Belastungen des Alltags leichter an, und man öffnet sich eher für neue Möglichkeiten. Der Effekt des Spielens geht aber noch deutlich darüber hinaus. So führt Spielen etwa dazu, dass sich Gehirnzellen neu vernetzen können, weil das Gehirn währenddessen auf Hochtouren läuft. Forscher gehen davon aus, dass Erwachsene dadurch besser in der Lage sind, sich auf neue Situationen einzustellen und ihr Potenzial zu entfalten. Zudem regt das Spielen auch im Erwachsenenalter Fantasie und Kreativität an und verleitet dazu, Neues auszuprobieren. Auch motorische Fähigkeiten werden bei Erwachsenen durch das Spielen verbessert. So konnte die Neurowissenschaftlerin Simone Kühn nachweisen, dass regelmäßiges Computerspielen das Wachstum der Hirnareale anregt, die für die Koordination des Bewegungsapparates zuständig sind. Nicht zuletzt kann eine gesellige Spielerunde dazu führen, dass man sich auf spielerische Weise mit seinen Mitmenschen auseinandersetzt. Das kann den sozialen Zusammenhalt und generell die sozialen Kompetenzen fördern.
Entwicklungsforscher fanden auch heraus, dass uns Spiele in eine andere Welt eintauchen lassen. Wer etwas spielt, das ihm gefällt, gerät in einen sogenannten Flow-Zustand, vergisst die Zeit, kann sich mühelos konzentrieren und ist völlig vertieft in das, was er gerade tut. In diesem Zustand steigt die Konzentration des Stresshormons Cortisol im Blut. Das sorgt dafür, dass unserem Körper zusätzliche Energie bereitgestellt wird. Gleichzeitig aktiviert Cortisol Rezeptoren im Gehirn, die Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft fördern. Nebensächliche Informationen werden dabei eher ausgeblendet. Es entsteht eine Art positiver Stress. Studien zeigen: Menschen, die einen Flow erleben, sind in der Folge positiver gestimmt. Spielspaß und Flow scheinen also Hand in Hand zu gehen und auch bei Erwachsenen Stress abzubauen.
Das Gute daran: Um zu spielen, müssen sich Erwachsene nicht unbedingt auf Spielzeug, Gesellschaftsspiele oder sportliche Spiele stürzen. Im Grunde lässt sich jede Art der Freizeitbeschäftigung als Spiel bezeichnen, die als Ausgleich zum Alltag empfunden wird. So können beispielsweise kreative Arbeiten wie das Stricken, Malen, Basteln oder gar Haushaltsarbeiten als Spiel zählen. Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga glaubt gar, dass es der Homo ludens, der spielende Mensch war, der die Kultur, Politik und Wissenschaft aus spielerischen Verhaltensweisen heraus entwickelt hat. Durch Ritualisierungen und Institutionalisierungen wurde ihm zufolge aus dem Spiel über die Jahrtausende hinweg Ernst.
„Das Gegenteil ist die Depression"
Der Spielforscher Jens Junge vom Institut für Ludologie (der Lehre vom Spielen) in Berlin geht davon aus, dass auf diese Art und Weise auch alle Erwachsenen spielen. „Manche Menschen sagen zwar, sie spielen nicht, aber meistens gibt es doch etwas, das sie im Spiel tun", erklärt Junge. So könne es sein, dass jemand nicht gern Brettspiele spiele, dafür aber gern herumalbere, Fußball spiele, bastle oder Puzzles zusammensetze. Welche Form des Spielens dabei für einen Menschen passt, ist sehr individuell und wird schon in der Kindheit geprägt. Der Spieleforscher ist sicher, dass es für jeden Menschen das richtige Spiel gibt: „Wenn ein Spiel uns keinen Spaß macht, dann ist es einfach kein gutes Spiel für uns."
Experten rechnen damit, dass beim Spielen in Zukunft die virtuelle Realität eine zunehmend größere Rolle spielen wird. Dabei könnten Spielende etwa durch das Tragen einer speziellen Brille tiefer in die Fantasiewelt abtauchen als bislang möglich. Auch Unternehmen überlegen, wie sie den menschlichen Spieltrieb zur Verbesserung von Arbeitsabläufen nutzen können. Der Softwarekonzern SAP etwa lässt seine Mitarbeiter auf freiwilliger Basis während der Arbeitszeit als Spieleteams gegeneinander antreten. Die Teilnehmer beantworten berufsbezogene Fragen zu Videoinhalten, die sie zuvor gesehen haben. Wer die meisten richtigen Antworten vorweisen kann, gewinnt. Dadurch erhofft sich der Konzern nicht nur eine höhere Motivation für den Wissenserwerb, sondern auch eine Verankerung im Langzeitgedächtnis.
Auch Stuart Brown glaubt, dass dem Spielen in der Arbeitswelt künftig eine größere Bedeutung zukommen könnte. Spielen als Gegensatz von Arbeit zu sehen, hält er für eine falsche Betrachtungsweise. In seinem Buch „Play: How It Shapes the Brain, Opens the Imagination, and Invigorates the Soul" zitiert er Studien, denen zufolge Arbeitsplätze, an denen es sehr ernsthaft zugehe, nicht notwendigerweise produktiver, häufig aber depressiver seien. „Das Gegenteil des Spiels ist nicht die Arbeit, das Gegenteil ist die Depression", sagt Brown. Der Spielpsychologe ist überzeugt, dass der Erfolg innovativer Kulturen davon abhängen werde, inwiefern sie sich die Bedeutung des Spielens bewusst machen und in ihren Alltag integrieren.