Silvesterreisen boomen, je ausgefallener, desto besser. FORUM-Autorin Barbara Schaefer hat in Minsk den Jahreswechsel auf Russisch gefeiert.
Mitternacht in der Silvesternacht in Minsk. Feuerwerk erst später, heißt es. Im Hotelrestaurant wird sich mit Wodka zugeprostet. Ein Jongleur tritt auf. Ein Zauberer tritt auf. Zwei Animateure versuchen, das Publikum im niedrigen Saal anzuheizen. Russen aus Moskau und St. Petersburg sitzen an zwei Tischen, sie singen laut mit, erraten Songs von Boney M. bis Balalaika. Dann ruft die Animateurin zum Bändertanz. Nun wacht der deutsche Tisch auf. Einer prescht nach vorne, gleich soll er ein langes rotes Band schwingen, er weiß noch nicht, zu welcher Musik. Er ist Arzt, hat eine Halbglatze, ist Palästinenser, lebt in Paderborn und ist verheiratet mit einer Polin. Die Lautsprecherboxen scheppern, wollen fast von den Ständern fallen. Es brüllt los: „Du hast …" Rammstein dröhnt durch das „Hotel Europe" mitten in Minsk, in Belarus. Der Arzt schwingt das Band. Absurder kann dieses Jahr nicht mehr werden.
Und die Russen singen mit. Rammstein heizt die Bude an, Rammstein, im Ausland fast bekannter als zu Hause. Rammstein, denen der belarussische „Gesellschaftliche Rat für Sittlichkeit" 2010 Auftrittsverbot erteilen wollte und der Band Propaganda für „Gewalt, Masochismus, Homosexualität und andere Abartigkeiten" vorwarf.
Die deutsche Reisegruppe aber ist wegen des Galakonzerts im Nationalen Akademischen Theater hier. Das begann um 18 Uhr, da folgten auf Puccini-Arien Offenbachs Szene der Trunkenheit, Verdis Trinklied aus „La Traviata", zauberhafte Ballettszenen, und beim Radetzkymarsch wurde mitgeklatscht als wäre Neujahr in Wien.
Genau genommen sind die deutschen Reisegäste aber hier, weil sie noch nie hier waren. Ein Ehepaar sagt, Weißrussland habe noch gefehlt, „die Reise dauert vier Tage, da dachten wir, das nehmen wir mit". Die gesamten älteren Herrschaften sind vermögende Vielreisende. Am Tisch wird Autoquartett mit Ländernamen gespielt: Ruanda! Nord-Korea! Simbabwe! Ein Ehepaar hat 152 Länder bereist, 152! Der Mann sagt: „Dieses Jahr haben wir noch mal Westafrika gemacht, eine Reise nach Benin, Burkina Faso, Togo, Ghana. Vier Länder auf einmal. Aber die sind sich halt schon alle sehr ähnlich, da in Afrika."
Silvesterreisen boomen. Man versteht das Prinzip sofort: Gebucht wird gern schon im Sommer, somit ist die leidige Silvesterfrage vom Tisch. Studiosus hat Minsk angeboten, dieses Jahr führen 45 Event-Silvesterreisen etwa nach Singapur, Tiflis oder Marrakesch. Oder an die Côte d‘Azur, wie der englische Adel in der Belle Époque. Oder nach Salzburg: Da gehört man dann zu den ersten in der Stadt, laut Lonely Planet ein Top-ziel für 2020. Laut Frano Ilic von Studiosus bietet der Veranstalter seit 1997 Event-Silvesterreisen an. Diese werden gern von Paaren gebucht, Singles und Alleinreisende interessierten sich eher für die Weihnachtsreisen.
Wer es exklusiver möchte, bucht bei Dertour Deluxe an Bord der L’Austral „Weihnachten und Silvester in der Antarktis". Der Programmverlauf gibt sich lapidar: 31. Dezember antarktische Halbinsel, 1. Januar antarktische Halbinsel. Dafür bezahlt man pro Person 14.130 Euro. Laut Dertour-Pressesprecher Christopher Steiger hat die Nachfrage zugenommen. In diesem Jahr seien Silvesterreisen „deutlich früher angefragt worden, teilweise schon im Frühjahr".
Troika-Fahrt in der Taiga
Mit Lernidee Erlebnisreisen kann man auf der Transsibirischen Eisenbahn den Jahreswechsel begehen. Da folgt auf eine Troika-Fahrt in der Taiga die Silvesterfeier im Zug, schiwagomäßig romantisch. Bei Wikinger feiert man Silvester auf dem Nil, das Silvestermenü gibt’s auf dem Schiff. Oder in der Stille der Backwaters von Kerala, oder unterm Firmament der Thar-Wüste, oder in den heißen Quellen auf Island. ASI-Reisen hat zum Jahreswechsel 57 Trips im Programm, es geht mit „Schneehschuh und Winterwandern" nach Meran, über Innsbruck und in Siebenbürgen und in die Berchtesgadener Alpen. Zudem wolle man „die Silvesternacht als Alternative zum Feuerwerk inszenieren", sagt ASI-Geschäftsführer Ambros Gasser. „Beispielsweise mit einer Nacht in der Wüste Jordaniens oder unter Nordlichtern in Island". Zu Weihnachten wird bei der ASI wenig gebucht, Gasser vermutet, vielen Menschen verbrächten diese Zeit mit der Familie, „selbst Singles sind dann bei Eltern oder Freunden. Silvester schließen sich diese Alleinreisenden gern einer Gruppe an".
Die Belarusgruppe sieht sich derweil Minsk und Umgebung an. Viele Bauten in der Stadt etwa entlang des Nezavisimosti-Prospekts sehen aus, als seien sie um die vorige Jahrhundertwende entstanden, doch fast alles stammt aus der Nachkriegszeit. Minsk wurde im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen fast komplett zerstört, ein Viertel der Bevölkerung starb, darunter fast alle jüdischen Einwohner.
Ein Tagesausflug führt nach Sula in ein Museum zur jüdischen Geschichte. Prominenz aus der ganzen Welt ist dort auf Plakaten zu sehen, alles weißrussische Juden, heißt es. Von Scarlett Johansson bis zu Kirk Douglas. Moment? Johanssons Mutter wurde in der Bronx geboren, entstammt einer polnisch-jüdischen Familie. Und Douglas ist 1916 in Amsterdam geboren, die Eltern waren jüdische Emigranten, der Vater geboren in Tschawussy, ursprünglich polnisch-litauisch, dann russisch, dann sowjetrussisch und weißrussisch erst hundert Jahre nach der Geburt des Vaters. Weiter geht es mit israelischen Staatsmännern, „alles Weißrussen", sagt Wassili, der Guide. Schimon Peres, geboren in einem Teil Polens, der heute zu Belarus gehört, ebenso wie Jitzchak Schamir und Menachem Begin, beide im russischen Kaiserreich geboren, heute zu Weißrussland gehörend.
Am nächsten Tag, Stadtführung in Minsk, Wassili steht ergriffen vor einem Denkmal, es ist Wincenty Jakub Dunin-Marcinkiewicz gewidmet, „unser berühmtester Dichter". Die Polin aus Paderborn ruft entrüstet: „Was? Nein! Der ist doch Pole!" Die deutsche Reisegruppe steht ratlos daneben, hat den Namen noch nie gehört. Es ist kompliziert, weil die Geschichte Weißrusslands kompliziert ist. Und weil die Frage nach der Nationalität oft kompliziert ist. Ist Kafka Tscheche, oder doch Österreicher? Ist Kant Russe, oder doch Deutscher?
Die Republik Belarus wurde 1991, nach Auflösung der Sowjetunion, selbstständig. Der Binnenstaat liegt eingeklemmt zwischen Polen, Ukraine, Russland, Lettland und Litauen – und nahezu all diese Länder hatten sich schon einmal einen Teil des heutigen Staatsgebietes einverleibt. Im 14. Jahrhundert expandierte das Großfürstentum Litauen nach Süden, danach verbreiterte sich Polen-Litauen nach Osten und nach den Teilungen Polens streckte Russland die Finger Richtung Westen aus. Nun regiert schon seit einem Vierteljahrhundert der Diktator Alexander Lukaschenko, Einheimische nennen ihre Heimat Lukaland, das ist nicht positiv gemeint. Aber Reiseführer Wassili wiegelt ab: Im Westen würden die Medien viel Negatives schreiben, „aber wir werden von Lukaschenko nicht auf Schritt und Tritt ausgepeitscht". Sie lebten hier „mit sibirischer Gelassenheit" – und in einer Art Freiluftmuseum der Sowjetzeit, das zumindest sagten Russen, die sich hier über Lenin-Büsten und Clara-Zetkin-Straßen wunderten. Wassili, auch ein älterer Herr, sagt: „Die Kultur Weißrusslands wurde ausradiert, alles sollte sowjetisch sein." Sogar die Sprache sei fast verschwunden. „Belarussisch war die Sprache der Bauern. Bei der Landflucht in die Städte wurden sie als Bauernlümmel diskreditiert. So fingen sie an, russisch zu reden." Nur wer genau hinschaut, kann russische von belarussischen Schildern unterscheiden, wichtigstes Merkmal ist der i-Punkt. Den gibt es nur im belarussichen Kyrillisch.
Leben in „sibirischer Gelassenheit"
Wo aber hinfahren an Silvester, wenn man es nicht erwarten kann? Am besten nach Samoa, dort feiert man bereits um 11 Uhr mitteleuropäischer Zeit den Jahreswechsel. Wer ein mistiges Jahr hatte, kann sich dort viele Stunden früher davon verabschieden. Nicht, dass es etwas ändern würde. Schippert man von Samoa hundert Kilometer nach Osten über den Pazifik zur Nachbarinsel Amerikanisch Samoa, gelangt man über die Datumsgrenze und somit in den Westen und in einen anderen Tag. Dort ist erst fast einen Tag später, am Folgetag um 12 Uhr mittags, ein Tag später, ein Jahr später. Gibt es schon einen Rekordversuch, wie oft an einem Tag man reisend den Jahreswechsel begrüßen kann? In Europa dreimal feiern ginge im Norden, drei Länder, drei Zeitzonen: Nach einem Mitternachtsvodka im russischen Rayakoski geht es ins menschenleere Nord-Finnland in der Hoffnung, auf einem Einödhof jemanden für ein schnelles „kippis" (Deutsch: Prost), zu finden, um dann nebenan im schwedischen Øvre Pasvik Nasjonalpark mit einem „Glad nyår" (Deutsch: Frohes Neujahr) die Drei-Zeitzonen-Reise abzuschließen.
In Minsk wird nun doch noch geböllert. Es ist halb zwei in der Nacht, die Feiernden versammeln sich auf einem Platz vor dem Restaurant 281, dem höchsten Punkt Minsks, und fast auch des Landes, denn Belarus ist flach. Es bleibt sehr friedlich, und so werden wohl auch bald unsere Silvester aussehen: Private Böller sind verboten, keiner feuert eine Batterie ab; von Weitem leuchtet das offizielle Silvesterfeuerwerk. Nur ein paar betrunkene junge Männer grölen laut: „Vorwärts Belarussia!" Nationalisten? Reiseleiter Wassili winkt ab: „Das sind Russen. Wir sagen nicht Belarussia, bei uns heißt es Belarus."