Großbritannien und die EU müssen einen neuen Draht zueinander finden
Großbritannien und die Europäische Union: Das ist ein bisschen wie bei einer ramponierten Beziehung, die am Ende in die Brüche geht. Vor Jahren wurde erstmals der Wunsch nach Scheidung offen ausgesprochen. Dann hadert der trennungswillige Partner mit sich, ist hin- und hergerissen. Nach heftigen inneren Kämpfen kommt der Schlussstrich. Und mit ihm das Gefühlschaos beim Verlassenen: Erleichterung, dass es vorbei ist. Befreiung, aber auch innere Leere und ein Schuss Melancholie. Es waren ja nicht nur schlechte Zeiten.
Dieser psychische Mechanismus prägt das Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU seit dem Brexit-Referendum im Juni 2016. Mit der Parlamentswahl und dem fulminanten Wahlsieg des Brexit-Einpeitschers Boris Johnson ist klar: Das Land will raus aus der Gemeinschaft. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, lässt sich der kollektive Stoßseufzer zusammenfassen.
Man muss festhalten: Die Verbindung zwischen London und Brüssel war keine Liebesheirat. Großbritannien wurde erst spät – 1973 – Mitglied der Gemeinschaft. Die Briten waren nie glühende Europäer. Sie hatten von Beginn an eine eher pragmatische Einstellung zum Staaten-Club. Die eigenen Interessen standen immer an erster Stelle. Der legendäre Auftritt der früheren Premierministerin Margaret Thatcher, die 1984 mit dem Schlachtruf „I want my money back" einen satten Britenrabatt herausholte, brachte es auf den Punkt.
Zugegeben: Die Briten sind eigen, gelegentlich schrullig. Aber sie haben auch den Fußball erfunden, die Beatles aus Liverpool entzückten mit ihrer Musik Generationen. Sie haben die Queen, die seltsam aus der Zeit gefallen scheint – und doch ein liebenswertes Stück Tradition in weltpolitisch verrückten Zeiten ist.
Premier Johnson verkörpert eine neue Qualität britischer Kauzigkeit. Er steht für einen populistischen Nationalismus, der starke Anleihen bei der US-Variante von Donald Trump genommen hat. „Make Britain Great Again" hätte Johnsons Slogan frei nach Trump lauten können. Der konservative Politiker hat mit dem Brexit nicht das überzeugendere Konzept vorgelegt. Er zog einen Stimmungswahlkampf durch: Mit der Wortgewalt eines Märchenerzählers malte er eine rosige Zukunft ohne die EU – gemischt mit Halbwahrheiten, gelegentlich auch Lügen, oft faktenfrei.
Den Briten wird der ernüchternde Praxistest nicht erspart bleiben. Der Traum von der Renaissance des alten „Empires" wird die Jobs aus der verloren gegangenen Kohleindustrie nicht zurückbringen. Patriotismus ist eine emotionale Währung, die aber auf dem Bankkonto nichts einbringt.
Johnson hatte das Glück, dass er einem miserablen Herausforderer gegenüberstand. Jeremy Corbyn, der Chef der Labour Party, legte sich in der Schicksalsfrage des Brexits nicht fest. Er taktierte und finassierte, war weder Fisch noch Fleisch. Er wollte ein bisschen EU-Austritt, aber nicht zu viel. Am Ende sollten die Leute in einem Referendum entscheiden. Hinzu kamen Corbyns Umverteilungsideen aus der sozialistischen Mottenkiste. Die Quittung: Labour erzielte das schlechteste Wahlergebnis seit 1935.
Dennoch gibt es keinen Grund zur Schadenfreude. Die Devise für die EU und Großbritannien heißt: Auf zu neuen Ufern! Es kommt nun darauf an, zügig ein Freihandelsabkommen auszutüfteln, das faire Wettbewerbsbedingungen gewährleistet. Die Briten können keine Zollfreiheit erhalten und gleichzeitig auf dem Weltmarkt Produkte zu Dumpingpreisen verkaufen – vorbei an allen Umwelt- und arbeitsrechtlichen Standards der EU. Für die Gespräche bis zu einem Vertrag ist vermutlich eine Verlängerung um ein weiteres Jahr nötig, also bis Ende 2021. Andernfalls droht am 31. Dezember 2020 doch noch ein chaotischer Brexit.
Die Briten bleiben wichtige Partner der Europäer – nicht nur bei den Handelsbeziehungen. Auch die Zusammenarbeit der Geheimdienste ist im Antiterrorkampf unverzichtbar. Das Gleiche gilt für die militärische Kooperation in der Nato. Und eine EU-Außenpolitik ohne das Beiboot Großbritannien ist im Zeitalter des aufziehenden Großmachtduells USA–China schlichtweg undenkbar. Ganz zu schweigen von den Herausforderungen im Umgang mit Autokraten-Regimen wie Russland oder der Türkei. Nach der Brexit-Scheidung heißt es daher: EU und Briten müssen Freunde bleiben.