Der Beschluss fiel kurz vor Weihnachten 2001. Seit 18 Jahren ist die Bundeswehr in Afghanistan im Einsatz. Aus einem Kampfmandat entstand eine Aufklärungsmission. Trotzdem: Gefährlich bleibt es. Ein Besuch vor Ort.
Advent in Nordafghanistan. Ein Sonntag. Es ist kalt. Unter null Grad am frühen Morgen. Diesiges Grau verhüllt die Hügelkette des Marmal-Gebirges. Das deutsche Feldlager an den Ausläufern trägt seinen Namen: Camp Marmal. Hier sind rund 1.000 deutsche Soldaten stationiert, zehn Prozent davon sind Frauen. Gemeinsam mit Streitkräften weiterer 22 Nato-Mitgliedsstaaten versehen sie hier ihren Dienst, insgesamt etwa 2.000 Männer und Frauen. Auf einer Fläche so groß wie 500 Fußballfelder.
Resolute Support – so nennt sich die 2015 begonnene Nato-Ausbildungsmission, zu der auch die Deutschen gehören. Afghanische Sicherheitskräfte sollen fit gemacht werden, um selbst ihr Land zu schützen. Gegen die Taliban, gegen Radikalislamisten, gegen fanatische Splittergruppen. Im Vergleich zur Isaf-Mission, die 2014 auslief, gibt es keine Nato-Kampfhubschrauber mehr, die einst in die Berge zu unbekannten Zielen aufbrachen. Auch Patrouillenfahrten ins Feindesland gehören der Vergangenheit an. Das Mandat hat sich verändert. Denn in Kampfhandlungen sind heute die afghanischen Streitkräfte involviert. Nach entsprechender Schulung und unter Anleitung, das Knowhow gibt es unter anderem von den Deutschen.
Immer wieder Anschläge und Schusswechsel
Zu sogenannten Zwischenfällen kommt es immer wieder: Anschläge, Schusswechsel, Explosionen, Granaten und Mörser. Meistens trifft es die lokalen Sicherheitskräfte und Zivilisten. Nach wie vor sterben jede Woche mehrere Dutzend Menschen. Draußen, jenseits der hohen Mauern, hinter den Stacheldrahtabgrenzungen lauert der Tod. Daran hat sich nichts geändert. Aber auch innerhalb der Kasernen kann es zu Anschlägen kommen. Bei den Afghanen sind diese Innen-Täter besonders gefürchtet. Sich zu schützen ist fast unmöglich, Vertrauen Mangelware.
Knapp 4.500 Kilometer trennen die deutschen Soldaten von ihren Familien zu Hause. Gerade in der Advents- und Weihnachtszeit kann das schmerzlich sein. Der Gottesdienst im Haus Benedikt, das an der breiten Hauptstraße des Camps liegt, ist voll besetzt. Zwischen den Uniformierten sind auch ein paar Zivilisten: Der deutsche Konsul zum Beispiel. Er kommt regelmäßig. Auch Mitarbeiter der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) lassen sich blicken. Für sie ist das Kirchlein ein Katzensprung. Denn sowohl das Deutsche Konsulat wie auch das Büro der GIZ liegen innerhalb des Camps. Aus Sicherheitsgründen wurden beide aus dem nahen Masar-e Sharif ins Feldlager verlegt.
Pfarrer Martin Hüfken ist erst seit einer Woche im Camp. Er hat den katholischen Militärseelsorger abgelöst. Heute hält er einen ökumenischen Gottesdienst. Jeder ist willkommen, egal ob er evangelisch, katholisch, andersgläubig ist oder gar keiner Religion angehört. Genau deshalb trägt die Kirche einen schlichten Namen: „Haus Benedikt". Vor dem Abendmahl spricht der evangelische Pfarrer von einem Gott, der sich zeigt und finden lässt. Und von der Ewigkeit, die noch so weit weg ist. Pfarrer Hüfken zündet eine Kerze an, gegen das Vergessen und für die Liebe. Er spricht von Versagen, Schuld und von den Kameraden, die gefallen sind. Dann greift er zur Gitarre. Das kommt gut an, genau wie der Kirchenchor, in dem Uniformierte und Zivilisten der Trostlosigkeit des Feldlagers trotzen und ihre musikalische Heimat gefunden haben. Oberstleutnant Eberhard Z. ist Chorleiter. Früher – als Kind – gehörte er zu den Regensburger Domspatzen. „Unter Georg Ratzinger", sagt er. Und auch, dass es unter dem Chorleiter und Bruder des ehemaligen Papstes Benedikt XVI – Joseph Ratzinger – durchaus diszipliniert zuging. Weitere Stationen des musikalischen Chefs der multinationalen Kampfmittelräumtruppe waren die Schaumburger Märchensänger und – bis heute – das Havelberger Vokalensemble. Mit dem Singen war 1984 erst mal Schluss. „Der Stimmbruch", lacht er. Dann kam er als Wehrpflichtiger zur Bundeswehr. Fast 30 Jahre später – als Berufssoldat – hat er zum Singen zurückgefunden. „Ein neuer Lebensabschnitt begann, und die Chormusik gehörte wieder dazu", erklärt er. Heute sei sein Engagement als Dirigent und Sänger ein schöner Ausgleich zum Lagerleben.
Der bärtige 55-Jährige singt normalerweise Bariton, doch aus Mangel an entsprechenden Stimmen muss er auch schon mal als Tenor agieren. Das gibt dem straffen Soldatenleben ein wenig Normalität und fast ein bisschen Alltagsgefühl. Dazu gehört auch der Sport im lagereigenen Fitnesscenter. „Wann immer es die Zeit erlaubt", ergänzt er. Denn für die Soldatinnen und Soldaten, die hier stationiert sind, gilt 24/7. Das heißt: die ständige Einsatzbereitschaft. Freie Tage oder Urlaub gibt es während des Auslandsaufenthaltes nicht. Es ist mittlerweile der dritte Afghanistan-Einsatz des gebürtigen Schwaben. Trotzdem: Für Eberhard Z. ist die Bundeswehr ein attraktiver Arbeitgeber: „Man lernt, mit Menschen umzugehen, sie zu führen. Und die Bezahlung ist auch nicht schlecht." Doch da gebe es Unterschiede, meint der Offizier, denn die Lebenshaltungskosten im Süden seien entschieden höher als die in seiner neuen Heimat im Osten Deutschlands.
Ständige Einsatzbereitschaft
Draußen auf dem Rollfeld dröhnen die Rotoren. Startbereit ist der MI-17. Rund zehn Soldaten boarden den Helikopter in wenigen Minuten. Trotz ihrer schweren kugelsicheren Westen, den Waffen und Stahlhelmen auf den Köpfen wirken sie fast schwerelos. Das Tempo ist vorgegeben, schnell muss es gehen. Kaum ist die Tür geschlossen, beginnt auch schon der Aufstieg. Bis der Hubschrauber in den Wolken verschwindet, müssen die Stahlhelme sitzen bleiben. Das Gleiche gilt für den Rückflug. Denn die Geschosse der Taliban können nur eine bestimmte Höhe erreichen. Unterhalb der Wolkendecke. Die Schutzwesten werden den ganzen Flug über getragen. Genau wie die Ohrenstöpsel, denn im Heli ist es sonst unerträglich laut. 90 Minuten dauert der Flug über die dichte Wolkendecke bis Kundus. Jeder Einzelne im Bauch des Fliegers bleibt für sich. Einige schlafen, die Wange auf die Gewehrkolben gestützt. Ein anderer schaut auf das Display seines Handys: ein kleines lachendes Mädchen. Die Heimat lässt grüßen! Der Ansatz eines Lächelns zuckt über die angespannte Miene des Uniformierten und vielleicht auch Familienvaters. Sonnenbrillen werden getragen, zum Schutz oder um die eigene Identität zu verbergen. Durch das Bullauge erkennt man die weißen Gipfel des Hindukuschs, die die Wolkendecke durchbrechen. Die Welt hier oben ist eine andere – blau und sonnig. Irgendwie friedlich. Das täuscht, erkennbar am nahen Begleithelikopter. Auch ein MI-17. Ohne Ladung, leer. Für den Fall einer Notlandung im Nirgendwo. Um Crew und Passagiere aufzunehmen, sie einzusammeln, sie zu retten. Lieber den Flieger zurücklassen als Menschenleben zu riskieren, lautet die Devise.
„Camp Pamir" oder „Safe Haven" heißt der Außenposten der Deutschen in Kundus, innerhalb dessen Mauern gelandet wird und der sich in der Gemarkung der afghanischen Armee befindet. In den vergangenen Monaten hat das einheimische Korps bei Angriffen mehrere Hundert Soldaten verloren. Die deutschen Soldaten unterstützen auch hier die Planung von Operationen oder beraten, wie die Truppe den Winter am besten übersteht: mit entsprechender Kleidung, Schuhen und genügend Vorräten. „Aufbauarbeit" heißt auch hier das Zauberwort.
In der Nacht hat es einen Zwischenfall gegeben. Schwere Gefechte. In der notfallchirurgischen Einrichtung der Deutschen wird seitdem gearbeitet. Mehr erfährt man nicht. In der Regel werden Schwerverletzte ins Feldkrankenhaus nach Marmal transportiert. Die Standards dort sind mit einem deutschen Regionalkrankenhaus vergleichbar. Auch afghanische Soldaten werden behandelt. Im Notfall. Kundus ist kein sicheres Pflaster.
Menschenleben retten und nehmen
Währenddessen zieht Daniel P. den CH-53 GS nach oben. Regelmäßig fliegt der Helikopterpilot nach Kundus. Manchmal auch bis nach Kabul oder ins entlegene Maimana. Es ist der schwerste Hubschrauber der Bundeswehr, das GS bedeutet „German Special". Zwei Buchstaben, die für die beiden erkennbaren Zusatztanks an den Flanken stehen. Die Triebwerke haben einen Extra-Filter als Spezialausstattung, der vor Staub und Dreck schützt. Gerade bei Geländelandungen wie in Afghanistan ist das ein immenser Vorteil. Im Vergleich zum MI-17 fliegt der CH-53 im Tiefflug. Bei Transportflügen besteht die Crew aus sieben Personen: zwei Piloten, ein Ingenieur, ein Bordtechniker und drei Doorgunner. Letztere, die Bordschützen, sichern vorne aus den Seitenfenstern hinaus und hinten von der Rampe aus mit schweren Maschinengewehren. Dreimal knapp 160 Kilo im Ganzen: die M3M als neueste Version der Browning M2, dazu ein Gurt mit 300 Schuss, ein Ersatzgurt und der Magazinkasten. Dazu kommen Nachtsichtgeräte. Der Hubschrauber steht im Hangar immer einsatzbereit zur Verfügung. „Tag und Nacht. Innerhalb von 30 Minuten sind wir flugfertig", ergänzt Oberstleutnant Tobias H., Leiter der Crew. Im Fall von Verletzten fliegt Isabell H. mit. Für die Bundeswehrärztin, die im Ulmer Bundeswehrkrankenhaus arbeitet, ist es der zweite Einsatz am Hindukusch. Ihre größte berufliche Herausforderung sei die Vereinbarkeit ihrer Tätigkeiten als Medizinerin und Soldatin. „Menschenleben retten und Menschenleben nehmen", sagt sie. „In erster Linie bin ich Soldatin und wenn es die Lage zulässt, dann auch Ärztin." Sie hat sich bis 2028 verpflichtet. Genügend Zeit, um eine Entscheidung zu treffen: Berufssoldatin ja oder nein!
US-Präsident Donald Trump besuchte in der letzten November-Woche die US-Truppen vor Ort. Wie geht es weiter? Was geschieht, wenn genau wie in Nordsyrien die US-Streitkräfte das Land verlassen? Eine Reduzierung der Truppenstärke wurde angekündigt, mehr nicht. Und dass die Gespräche mit den Taliban wieder aufgenommen werden, die vor einigen Monaten so unrühmlich endeten. Wieder einmal wird über den Frieden debattiert werden und über eine mögliche Waffenruhe zwischen den verfeindeten Parteien. Spekulationen nehmen Raum ein, doch man hält sich mit Vermutungen bedeckt.
Es wird dunkel im Camp Marmal. Gleißende Scheinwerfer erhellen die Außenmauern mit dem dichten Stacheldrahtnetz. Und da ist er! An einer entlegenen Ecke, ein wenig gebeugt, fast unscheinbar, mit zarter elektrischer Beleuchtung: ein Weihnachtsbaum! Und an seinen ausgefransten Zweigen glimmen ein paar Kerzen.