Nach 17 vergeblichen Anläufen wollen die deutschen Skispringer endlich wieder einmal die Vierschanzentournee gewinnen. Im Vorfeld des traditionellen Spektakels hatte allerdings ausgerechnet Markus Eisenbichler im ersten Winter nach seinem dreifachen WM-Triumph einige Probleme.
Der letzte Triumph eines deutschen Skispringers bei der Vierschanzentournee liegt genauso lange zurück wie die Ablösung der D-Mark durch den Euro. Seit dem historischen Erfolg von 2002 durch Sven Hannawald jagen die „Adler" Jahr für Jahr vergeblich einem neuerlichen Gesamtsieg beim deutsch-österreichischen Spektakel hinterher. Im 18. Versuch nun soll der große Wurf endlich gelingen – mit dem neuen Bundestrainer Stefan Horngacher und, so der Plan, besonders durch den dreifachen Weltmeister und Vorjahreszweiten Markus Eisenbichler. Allerdings hatte „Eisei" bei den ersten Weltcup-Springen mit allerlei Problemen zu kämpfen, sodass womöglich der WM-Zweite Karl Geiger nach gleich mehreren Top-10-Resultaten zu Saisonbeginn bei den „Four Hills" die Rolle von „Adler Nummer eins" übernehmen könnte.
Ausgerechnet Eisenbichler ist im Vorfeld der Tournee – abgesehen von den Aufenthalten im Lazarett von Olympiasieger Andreas Wellinger (Kreuzbandriss) und Ex-Weltmeister Severin Freund (Formaufbau nach Meniskusoperation und Rückenproblemen) – das Sorgenkind im deutschen Team. Mit seinen Plätzen 50, 23, 31, 36 und 15 blieb der neue „Vorflieger" bislang weit hinter den Erwartungen zurück, auch hinter seinen eigenen. Nur zwei Mal erreichte der 28-Jährige den zweiten Durchgang der 25 Besten – im finnischen Kuusamo sogar nur, weil zwei stärkere Springer disqualifiziert wurden. Sein Formtief wollte Eisenbichler, der im Vorfeld der Saison mit Kniebeschwerden und Rückenproblemen zu kämpfen hatte, nach seiner doppelten Nullnummer beim zweiten Weltcup im russischen Nischni Tagil denn auch gar nicht erst schönreden. „Das Selbstbewusstsein ist nicht da, ich hadere ein bisschen", fasste der Siegstaler seine unbefriedigende Situation nach der Heimkehr frustriert und ratlos gleichermaßen zusammen. Zweimal in Folge schon im ersten Durchgang gescheitert war Eisenbichler zuletzt vor fünf Jahren. Horngacher machte aus den Problemen großer Teile seines Teams und besonders von Eisenbichler auf dem Weg zur Tournee ebenfalls keinen Hehl: „Auch wenn die Qualität noch nicht hoch ist bei uns, sind wir nicht ganz negativ", lautete seine Zwischenbilanz vor dem letzten Weltcup-Wettbewerb vor Weihnachten im schweizerischen Engelberg: „Wir müssen aber aktiver und intensiver springen."
„Das Selbstbewusstsein ist nicht da"
Für radikale Maßnahmen, wie etwa eine Wettkampfpause für Eisenbichler in Engelberg, sah Horngacher, der die deutschen Adler zu Saisonbeginn vom jahrelangen Erfolgscoach Werner Schuster übernommen hatte, zunächst jedoch keinen Anlass. „Wir müssen mit ihm in Ruhe und ohne Stress weiterarbeiten", sagte der Österreicher. Auch Sven Hannawald wehrte sich vor der Zielgeraden in der Vorbereitung auf die Tournee gegen Panikmache um die nominell größte Hoffnung auf den ersehnten Triumph. „Bei Schuster war es in der Vergangenheit immer vor der Tournee super, und dann war sofort der Druck da." Druck aber schien bis zum Start der Weltcup-Saison auch weniger ein Problem für Eisenbichler zu sein. Im Gegenteil: Der Bayer ging nach seinen drei WM-Titeln von Seefeld mit dem Rummel einerseits und den spürbar gestiegenen Erwartungen andererseits betont lässig um, lehnte aber gleichwohl die Rolle als Gesicht der Mannschaft und alleiniger Sieggarant ab: „Wir haben kein Gesicht, wir sind ein Team. Ich war der Beste von uns im Weltcup und bei der WM, aber Karl Geiger war genauso gut und hat auch drei Medaillen gemacht."
Hungrig auf Erfolg ist Eisenbichler bei aller Bescheidenheit allerdings natürlich weiter. Erst einen Weltcupsieg hat der Überflieger auf dem Konto, weil vergangene Saison meist der japanische Tourneesieger Ryoyu Kobayashi noch eine Nummer stärker war. Doch Horngacher traute Eisenbichler ungeachtet des Formtiefs in der ersten Dezember-Hälfte zu, dem Asiaten die Stirn zu bieten: „Markus kann definitiv an die Leistungen der vergangenen Saison anknüpfen. Er kann auch noch besser springen, das zeigt er immer wieder." Doch steht die Tournee seit Hannawalds Coup alle Jahre wieder für die deutschen Springer nie unter guten Vorzeichen. „Letztes Jahr", meinte Eisenbichler zu seinem damals verlorenen Duell mit Kobayashi, „wäre es fast so weit gewesen, aber die Tournee ist ein bisschen wie ein Fluch."
Schusters große Fußstapfen stören Horngacher nicht
Womöglich bereitet Horngacher dem Spuk ein Ende. Dass der ehemalige Springer Tourneesieg kann, bewies der 50-Jährige jedenfalls 2017 und 2018 als polnischer Nationaltrainer bei den Gesamtsiegen seines damaligen Schützlings Kamil Stoch. Nicht von ungefähr war der Wahl-Schwarzwälder im vergangenen Frühjahr unmittelbar nach Schusters Rückzugsankündigung die erste Wahl für den Deutschen Ski-Verband bei der Suche nach einem Nachfolger. Schusters große Fußstapfen stören Horngacher, der von 2010 bis 2016 als Assistent seines Vorgängers beim deutschen A-Kader gearbeitet hat, in keinster Weise. „Jeder weiß, dass Werner Großartiges geleistet hat. Aber ich will meine eigenen Akzente setzen", sagte Horngacher vor dem Saisonbeginn selbstsicher. „Steff, der Chef" geht bei der Tagesarbeit denn auch neue Wege. „Wir haben die Trainingspläne mehr zentralisiert, das war für die Athleten vielleicht neu", beschreibt Horngacher seine ersten Impulse. Auch abseits der Schanze hat der Coach bereits einiges umgekrempelt: „Wir haben einen Physiologen dazugewonnen. Auch die Ansprachen sind jetzt ein bisschen anders. Es gibt viele neue Impulse, die natürlich verarbeitet werden müssen." In der Mannschaft kommt das gut an. Horngacher sei „vom Typ her anders. Ich komme mit ihm sehr gut aus", sagt Eisenbichler. Erste Auswirkungen des Stabwechsels bekam der Bayer schon in der Saisonvorbereitung im Kraftraum zu spüren: „Stefan hat beim Krafttraining den Daumen drauf. Ich habe Werte, von denen ich nicht gedacht hätte, dass ich das einmal schaffe."
Ein erstes Ausrufezeichen in der neuen „Ära Horngacher" soll die Tournee bringen. Seine Zuversicht vor dem ersten Saisonhöhepunkt begründet der Bundestrainer mit seinen Erfahrungen mit Stoch und Co: „Man kann den Tourneesieg nicht unbedingt planen, man kann ihn aber vorbereiten."
Voll im Soll liegt Geiger dabei. Ganz anders als Eisenbichler präsentierte sich der Oberstdorfer in den ersten Weltcup-Wettbewerben der Saison schon in einer vielversprechenden Frühform und sprang dem deutschen Leader schlicht und einfach davon. Seinen siebten Plätzen in Wisla und anschließend in Kuusamo ließ Geiger in Russland im ersten Springen als Zweiter sogar einen Podestrang und im zweiten Wettbewerb im Ural als Siebter gleich die nächste Platzierung unter den besten Zehn folgen. Es folgte ein fünfter Platz in Klingenthal. Entsprechend optimistisch blickt der 26-Jährige schon in Richtung Tournee: „Meine Sprünge sind insgesamt gut. Das passt schon." Auch Horngacher schien dem WM-Zweiten von der Großschanze und Weltmeister mit der Mannschaft sowie im Mixed für die Tournee die Übernahme der Anführerrolle immer mehr zuzutrauen: „Karl springt sehr konstant und sehr gut. Es passt bei ihm."
„Es hatte nicht so funktioniert, wie ich es mir vorgestellt habe"
In Geigers Sog arbeitete sich auch der Vorjahresdritte Stephan Leyhe mit zunehmender Wettkampfpraxis aus einem unerwarteten Formtief. Der Willinger schaffte in Russland ebenfalls ein Top-10-Ergebnis, nachdem Leyhe in den ersten beiden Springen noch das Finale verpasst hatte. „Es hatte nicht so funktioniert, wie ich es mir vorgestellt habe und wie es in der Vorbereitung lief. Aber ich habe einfach weitergemacht", erläuterte der Mannschafts-Weltmeister seine rechtzeitigen Verbesserungen. Eisenbichler kann nur probieren, es Leyhe gleichzutun – und aus der Erinnerung an die vergangene Saison Mut schöpfen: Auch 2018 erreichte der spätere Dreifach-Weltmeister erst unmittelbar vor der Tournee im siebten Saisonwettbewerb seine erste einstellige Platzierung.