Jeder will so sein wie er. Aber keinem verrät er, wie er so werden konnte: Ryoyu Kobayashi ist in der Skisprung-Szene zu einem Phänomen geworden. Der Japaner steht nicht nur auf den Skisprungschanzen auf Tempo pur.
Den Grundstein für seine außergewöhnliche Dominanz auf den Schanzen dieser Welt legte Ryoyu Kobayashi im Sommer – und er verdankt ihn auch Skisprung-Methusalem Noriaki Kasai, der mehr als doppelt so alt ist wie Kobayashi. Als der 22-Jährige im August 2018 seine ersten Grand-Prix-Wettbewerbe gewann, nahm sich Kasai den japanischen Teamkollegen zur Seite und warnte ihn. „Er hat mir gesagt, dass ich nicht jubeln soll, weil das nichts wert ist im Sommer", erzählte Kobayashi. Doch auch ein halbes Jahr später, im Winter, gewann der Überflieger aus der nördlichen japanischen Präfektur Iwate pausenlos. Und freute sich auch ausgelassen.
Kobayashi hat die Verhältnisse im Skispringen seit November 2018 gehörig durchgemischt und seinen Aufstieg mit dem Gesamtsieg bei der prestigeträchtigen Vierschanzentournee gekrönt. Er ist erst der dritte Vierfachsieger nach dem Deutschen Sven Hannawald (2002) und dem Polen Kamil Stoch (2018). Trainer, Funktionäre, Athleten: Alle loben die einzigartigen Leistungen dieses schüchternen und wortkargen Japaners, der sich nach gelungenen Flügen so schön kindlich freuen kann, aber bei Interviews doch so wenig von sich preisgibt. „Ich bin ein ganz normaler japanischer Junge, ich mag Autos und interessiere mich für Musik", erzählt Kobayashi. Sein Faible ist Geschwindigkeit, nicht nur im Schnee und auf der Schanze.
Vierfach-Sieger wie Hannawald und Stoch
Alle schauen ihn an, alle studieren ihn, alle wollen ihn im besten Fall kopieren. Kobayashi ist zu einem Vorbild geworden, auch für Kollegen, die jahrelang selbst Trends im Skispringen gesetzt haben. „Das ist sensationell, was er macht", sagte Österreichs Stefan Kraft, Weltrekordhalter im Skifliegen mit 253,5 Metern. Für Sven Hannawald fehlt nur noch „ein Wimpernschlag" zum perfekten Sprung, und Werner Schuster, bis März Skisprungbundestrainer, hat „selten so was gesehen auf den Schanzen dieser Welt".
Kobayashi kommt aus einer Skisprung-Familie, er selbst startete mit elf Jahren mit dem Langlauf. Sein Vater ist Skilehrer in Iwate, seine Schwester springt, seine Brüder springen, der ältere Junshiro sogar ebenfalls erfolgreich im Weltcup. „Von ihm habe ich viel gelernt, das motiviert mich natürlich noch mehr", sagt Kobayashi.
Mit seinem Bruder teilt er sich bei der monatelangen Europa-Tour gern ein Zimmer und lässt sich schon einmal beruhigen, wenn der Druck so groß wird wie in Oberstdorf, als plötzlich alle Kameras, Mikrofone und Lichter in seine Richtung gehalten wurden.
Einen entscheidenden Anteil am plötzlichen Erfolg des „Neo-Japaners" hat auch sein neuer Trainer Hideharu Miyahira, der selbst noch mit dem mittlerweile 47 Jahre alten Kasai und dem letzten japanischen Tourneesieger Kazuyoshi Funaki aktiv war. Der neue Trainer gilt als still und introvertiert, wie viele Japaner. Mit dieser Art und seiner enormen Kompetenz scheint er Kobayashi aber ganz gut ein paar Flausen aus dem Kopf getrieben und ihm dafür mehr positive Energie und den absoluten Ehrgeiz eingeimpft zu haben.