Die Ukraine und Russland haben sich im Gasstreit geeinigt. Ein neuer Transit-Deal ist geschlossen, auch ein Erfolg für den neuen Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj. Dieser ist zwar unerfahren, aber nicht glücklos.
Als „Diener des Volkes" war Wolodymyr Selenskyj als Präsident der Ukraine angetreten. Es war seine litauische Amtskollegin Dalia Grybauskaite, die den Neuen bei einem Besuch in der Bankowa-Straße, dem Präsidentensitz in Kiew, unlängst mit ihrem Gastgeschenk dezent an sein Wahlversprechen Bescheidenheit erinnerte: Sie schenkte ihm ein Fahrrad. Denn mit einem solchen war Selenskyi damals zur Arbeit gefahren, als er noch den Präsidenten des Landes gespielt hatte – in seiner TV-Serie „Diener des Volkes". Da gab er noch den bescheidenen Mann aus dem Volk, der durch einen Zufall Präsident wird, durch einen Korruptionssumpf stolpert und strauchelt, um sich schließlich gegen alle Neider und Feinde zu behaupten.
Seit einem halben Jahr ist Selenskyj nun tatsächlich Präsident des Landes. An Neidern, Feinden und Gegnern mangelt es nicht. Der Sumpf, durch den er sich in der Tat kämpfen muss, besteht aus wunden Punkten, roten Linien, milliardenschweren Geschäftsinteressen sowie, bei aller Popularität, auch aus einer breiten Front an Ablehnung. Dazu kommt ein verdeckter Krieg mit Russland, das zudem Teile des eigenen Landes, nämlich die Krim, annektiert hat. Und schließlich schwelt da jener Skandal um den mutmaßlichen Versuch des US-Präsidenten Trump, sich für den eigenen Wahlkampf Schützenhilfe zu erpressen, der als „Ukraine-Gate" Schlagzeilen macht. Dabei sinkt das Interesse in Westeuropa an der Ukraine weiter – es sei denn, es geht um das Gas für Westeuropa. Wie sich nun beim Transit-Deal des russischen Gases zeigt.
Da kommt es westeuropäischen Politikern und Staatsleuten nicht ungelegen, dass der neue Präsident in Kiew den internationalen Dialog sucht. Meilenstein war hier das Treffen im sogenannten Normandie-Format im Dezember in Paris. Dazu gehören Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, Selenskyj und Russlands Staatschef Wladimir Putin. Die beiden Letzteren trafen zum ersten Mal direkt aufeinander.
Als TV-Star spielte er „Diener des Volkes"
Einiges wurde erreicht: So sollen zwischen der Ukraine und den selbsternannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk alle Gefangenen ausgetauscht werden. Auch sollen in weiteren Sektoren an der Front die Truppen auf beiden Seiten zurückgezogen und ein umfassender Waffenstillstand umgesetzt werden.
Die Zweifel an Selenskyj in der Ukraine verschwinden dennoch nicht: Selenskyjs politische Unerfahrenheit hängt ihm weiter an, während er sich mit einem Großmeister im Taktieren herumschlagen muss: Wladimir Putin. Manchmal drängt sich der Eindruck auf, Moskau diktiere Kiew etwa gewünschte Verfassungsänderungen. Zugleich ist einer großen Mehrheit der Ukrainer klar, dass eine Revolution gegen Selenskyj wohl in die Katastrophe führen würde.
Auf den ersten Blick sieht Selenskyjs Bilanz nämlich bislang ganz gut aus: Was den Krieg im Osten des Landes angeht, scheint sich etwas zu bewegen. Es gab einen spektakulären Gefangenenaustausch, Truppenentflechtungen an der Front, die Rückgabe gekaperter Schiffe und nun das erste direkte Treffen zwischen den Präsidenten der Ukraine und Russlands.
Aber Selenskyj ist ein Präsident, der nur zweierlei hat: Fans und Gegner. Neutral steht dem Neuen an der Spitze des Landes jedenfalls kaum jemand gegenüber. Seinen Anhängern gilt er als Hoffnungsträger, als neues Gesicht in der über Jahrzehnte versteinerten politischen Elite des Landes. Kritiker sehen Selenskyj aber durchaus auch als Experiment eben dieser Elite – ist doch nach wie vor unklar, inwieweit der Oligarch Ihor Kolomoisky Einfluss auf ihn hat. Kolomoisky: Großunternehmer, Medienmogul, Machtbroker in der Ukraine – das große Fragezeichen über Selenskys Präsidentschaft. Es ist Kolomoisky, dem Selenskyj seinen Aufstieg zunächst in Funk und Fernsehen und schließlich in der Politik zu verdanken hat. Im Wahlkampf hatte sein TV-Sender 1+1 offen für Selenskyj Wahlwerbung betrieben. Finanzielle Zuwendungen sind zwar nicht belegt, aber zumindest personell gibt es zahlreiche Überschneidungen der Kreise um Selenskyj und Kolomoisky. So ist der Anwalt Andrij Bohdan, ein Mann der dem engsten Kreis um den Oligarchen zugerechnet wird, heute Chef der Präsidialverwaltung. Nach ukrainischem Recht dürfte Bohdan wegen seiner Rolle in der Azarow-Regierung unter dem gestürzten Präsidenten Wiktor Janukowytsch bis 2024 kein offizielles Amt ausüben.
Russisches Gas fließt weiter durch Ukraine
Und es sind Details in Selenskyjs auf den ersten Blick positiver Bilanz, die Wind in die Segel der Zweifler pusten. Beispiel Gefangenenaustausch: Bei der Aktion wurde neben anderen Personen einer der Hauptzeugen des MH-17-Abschusses an Russland übergeben. Alle Gerichtsverfahren innerhalb der Ukraine gegen die an Russland Ausgehändigten wurden eingestellt oder abgeschlossen. Nicht so bei den von Russland ausgehändigten Ukrainern. Die müssen rein theoretisch vor russischen Gerichten erscheinen, sollte das verlangt werden. Ein anderer großer Kritikpunkt ist die Truppenentflechtung. Viele Ukrainer sehen in den bereits erfolgten und möglicherweise kommenden Zugeständnissen an die sogenannten Volksrepubliken Lugansk und Donezk (Autonomiestatus, etwaige Anerkennung der „Volksmilizen") eine Kapitulation.
Dass nun der Gassstreit mit Russland gelöst ist, wird Selenskyj wohl auch als Erfolg verbuchen können. Der neue Gas-Vertrag zwischen dem ukrainischen Unternehmen Naftogaz und der russischen Gazprom regelt den weiteren Gast-Transit durch das Land. An sich hatte Gazprom offenbar auf ein stilles Auslaufen des bisherigen Zehnjahresvertrages und eine Umleitung auf die neue Pipeline Nord Stream 2 durch die Ostsee gehofft. Kiew setzte dagegen auf den Transit durch die Ukraine für möglichst lange Zeit. Nun erklärte der russische Präsident Putin, trotz der drei Pipelines Nord Stream, Nord Stream 2 und künftig Turk Stream, die die Ukraine umgehen, werde Russland trotzdem auch in Zukunft die Ukraine selbst zum Transit nutzen.
Seitens Gazprom hatte es an sich geheißen, man wolle mit der Naftogaz überhaupt erst nach Abschluss der laufenden Verfahren wieder sprechen. Dann wäre die Verhandlungsposition eine komplett andere gewesen. Die neue Leitung durch die Ostsee ist aber nun mal noch nicht fertig, und nun drohen noch US-Sanktionen. Ob die neue Pipeline im Jahr 2020 in Betrieb gehen kann, ist völlig unklar. Gut für die Ukraine: Russland braucht sie als Transitland doch noch sehr viel länger und kann sich vor allem eines nicht leisten: den Ruf als zuverlässiger Lieferant zu verlieren. Dass Nord Stream 2 nun nicht „rechtzeitig" fertig wurde – auch wegen dem Störfeuer aus den USA – war da ziemlich unangenehm.
Und Kolomoisky? In den Augen von Selenskyjs Gegnern ist er der eigentliche Präsident der Ukraine. Ein besonders heikler Fall ist die „Privatbank". Diese Bank Kolomoiskys war 2016 verstaatlicht worden – was den Ausgangspunkt der bitteren Feindschaft zwischen Kolomoisky und Ex-Präsident Petro Poroschenko markierte. Kolomoisky will nun seine Bank zurück. Eine Rückabwicklung der Verstaatlichung wird derzeit vor Gericht verhandelt.
Klar ist aber: Für Selenskyj wäre eine Rückabwicklung fatal – innen wie außenpolitisch. Internationale Geldgeber der Ukraine beobachten die Beziehung zwischen den beiden und Äußerungen Selenskyjs, der eine Amnestie für Oligarchen gegen einen Fünf-Prozent-Ablass an den Staat vorschlug, mit Argwohn. Und innenpolitisch: Gewählt wurde Selenskyj schließlich als einer, von dem erwartet wird, dass er dem Oligarchentum in der Ukraine ein Ende setzt, Korruption bekämpft und nahbar ist. Einer eben, der auf dem Fahrrad und nicht mit der Wagenkolonne, für die die Innenstadt Kiews gesperrt wird, zur Arbeit fährt. Ob Selenskyj das Fahrrad Dalia Grybauskaites jemals ausprobiert hat, ist übrigens nicht bekannt.