Mal eben schnell die Mails checken. Gedankenverloren durch den News Feed scrollen. Die aktuellen Fotos von Facebook-Freunden und Instagrammern bewundern. Im Alltag lauern Ablenkung und Zerstreuung überall. Was aber macht das mit unserem Gehirn?
Die viel Zeit verbringen Sie eigentlich online, vor dem Fernseher oder mit anderen Medien? Und wie oft checken Sie mal eben E-Mails, Push-Nachrichten oder Social Media? Zwischen drei und sieben Stunden pro Tag hängt der Deutsche je nach Altersgruppe im Schnitt alleine am Smartphone. Junge Menschen kommen dabei auf die höchsten Werte, während Menschen über 61 deutlich weniger am Handy sind. Sally Andrews, Psychologiedozentin der Nottingham Trent University, konnte zudem zeigen, dass Menschen ihren Smartphone-Konsum häufig halb so hoch einschätzen, wie er tatsächlich ist. „Die Tatsache, dass wir unser Smartphone doppelt so häufig nutzen wie wir glauben, ist ein Indikator dafür, dass ein großer Teil unseres Nutzungsverhaltens automatisch und unbewusst abläuft", so die Psychologin.
Gut möglich also, dass Ihre Selbsteinschätzung ein wenig zu positiv ausgefallen ist und Sie viel mehr Zeit mit diversen Medien verbringen, als Ihnen bislang bewusst ist. Das ist kein Zufall, denn unsere Aufmerksamkeit ist längst zu einem Gut geworden, das teuer gehandelt wird. Medien, PR-Strategen, Politiker und Unternehmen: Sie alle wollen profitieren im Geschäft um unsere Beachtung. Doch hat es eine Information erst einmal geschafft, unsere Aufmerksamkeit zu wecken, dann klicken wir uns durch widersprüchliche Quellen, müssen entscheiden, was wir als glaubwürdig einstufen und wann wir uns mit dem nie vollständigen Wissen zufriedengeben. Dass das Netz voller Informationen steckt und diese unendlich verfügbar scheinen, macht die Situation nicht einfacher. Denn irgendwann ist unser Gehirn wie ein volles Glas Wasser, das mit jedem zusätzlichen Tropfen überläuft. Laut dem amerikanischen Neurowissenschaftler Daniel Levitin ist das menschliche Gehirn darauf ausgelegt, sämtliche verfügbaren Informationen hungrig aufzusaugen. Das führt zu einem Konkurrenzkampf um die Aufmerksamkeitsreserven – und die sind begrenzt. Für einen erhöhten Medienkonsum und permanente Informationsflut ist es nicht geschaffen. Wenn besonders viele Informationen auf uns einströmen, ist der entscheidende Gatekeeper unser Arbeitsgedächtnis. Diese zentrale Instanz in unserem Gehirn hält die Informationen in unserem Geist präsent, die wir im Moment benutzen und benötigen. Dort werden unsere Denkgeschwindigkeit, unsere Fähigkeit zum Fokussieren sowie zum Auswählen und Entscheiden gesteuert. Denn nicht nur die Verarbeitung von Informationen, sondern auch die Trennung von Wichtigem und Unwichtigem verbrauchen Kapazitäten in unserem Gehirn. Das Arbeitsgedächtnis ist zudem störanfällig. Ist es bereits ausgelastet, kann schon eine kleine Ablenkung dazu führen, dass der super Gedanke, den man gerade hatte, in Vergessenheit gerät. Wie viel Speicherkapazitäten das Arbeitsgedächtnis hat, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Psychologische Experimente konnten zeigen, dass, je größer die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses ist, es Versuchspersonen umso leichter fällt, ihr Verhalten zu kontrollieren und etwa dem Drang nach Süßigkeiten zu widerstehen oder dem Wunsch, hemmungslos Geld auszugeben. Das hängt damit zusammen, dass im Arbeitsgedächtnis auch unsere Selbstkontrolle und Willenskraft ihren Ursprung haben. Im Umkehrschluss bedeutet das: Wird das Arbeitsgedächtnis zu stark belastet, leidet die Willenskraft und, auf Dauer gesehen, kann eintreten, was der Psychologe Roy Baumeister „Ich-Erschöpfung" nennt: Wir sind kaum mehr in der Lage, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen und verlieren den Blick fürs Wesentliche.
Arbeitsgedächtnis ist die zentrale Instanz für Aufmerksamkeit
Der Psychiater Bert te Wildt, der das Buch „Digital Junkies. Internetabhängigkeit und ihre Folgen für uns und unsere Kinder" geschrieben hat, erklärt es so: „Die neuen Medien sind so schnell, dass sie unsere menschliche Wahrnehmung eigentlich übersteigen. Das hat schon mit dem Fernsehen begonnen. Mit den schnellen Schnitten in neueren „James Bond"-Filmen haben ältere Menschen bereits ihre Probleme. Die jüngere Generation trainiert zwar diese schnelle Wahrnehmung, leidet aber gleichzeitig unter Konzentrationsmangel beispielsweise bei Büchern, die Geduld erfordern." Te Wildt ist Leiter der Onlinesuchtambulanz „Oasis" für junge Erwachsene. Zu ihm kommen Patienten, für die der permanente Internetkonsum zur Sucht geworden ist. „Wir haben unter anderem Patienten, die täglich bis zu 16 Stunden im Internet unterwegs sind – und das über Monate und Jahre hinweg. Die leben quasi online", erzählt der Psychiater.
Mithilfe eines Onlinetests können Betroffene und Angehörige herausfinden, ob bei ihnen ein Verdacht auf Internetsucht besteht. Ist dies der Fall, werden sie zu zwei Online-Sprechstundenterminen mit Therapeuten eingeladen, um die Diagnostik einer Internetsucht und ihrer Begleiterscheinungen durchzuführen und ihnen individuelle und spezifische Behandlungsmöglichkeiten in ihrer Nähe aufzuzeigen.
Dabei sind Abhängigkeiten von neuen Medien häufig kein Zufallsprodukt oder nur aus individuellen Risikofaktoren gespeist, sondern auch Folge des Designs. Jede Farbe, jeder Sound und jedes Design ist so gestaltet, dass der Nutzer möglichst viel Zeit vor dem Bildschirm verbringt. Damit das gelingen kann, lassen finanzstarke Unternehmen ihre fähigsten und kreativsten Mitarbeiter permanent an neuen Wegen arbeiten, wie Konsumenten möglichst viel ihrer Zeit und Aufmerksamkeit in deren Apps oder auf deren Plattformen zubringen. Das Nutzerverhalten soll dabei über den sogenannten Habit Loop, also die Gewohnheitsschleife, gesteuert werden. Am Anfang steht immer ein Reiz, das Handy vibriert, eine Nachricht ploppt auf oder ein Push-Fenster öffnet sich. Diesen Reiz verbinden wir über die Zeit mit einer Routine, wir schauen also nach, was uns gesendet wurde oder was sich in der Welt getan hat. Wann immer wir die Routine ausführen, erhalten wir nun eine Belohnung. In unserem Körper macht sich ein gutes Gefühl breit, Botenstoffe im Gehirn wie das Glückshormon Dopamin werden getriggert. Schließlich entsteht ein Verlangen. Unser Gehirn hat gelernt, wie sich die Belohnung anfühlt und will uns noch mehr Dopamin-Schübe verschaffen. Also klicken wir. Das kann sogar so weit gehen, dass wir die Welt um uns herum vergessen, Gefahren ausblenden und Verluste in Kauf nehmen. Im Extremfall wird das Verlangen zur Sucht, und wir geraten in eine Abhängigkeit, in der wir nicht mehr anders können, als zu klicken.
Abhängigkeiten sind eine Folge des Designs
Dabei verstehen es Plattformen oft, fünf psychologische Anfälligkeiten anzusprechen. Den Belohnungseffekt für immer neue Texte und Mails, das Bedürfnis, gesehen zu werden (zum Beispiel über Bilder oder Likes), das Bedürfnis, sich zu revanchieren (ich muss jetzt auch antworten, das wäre sonst unhöflich), die Angst etwas zu verpassen und den Impuls, sich mit anderen zu vergleichen. Wie und warum bestimmte Medien funktionieren, wissen ihre Macher am besten. So erscheint es auch wenig verwunderlich, dass Steve Jobs 2010 auf die Frage eines Journalisten, wie seine Kinder das iPad fänden, antwortete: „Sie haben es noch nie benutzt. Wir schränken stark ein, wie sehr unsere Kinder Technologie nutzen. Wir tun das, weil wir ihre Gefahren aus erster Hand kennen."
Wie also können wir uns unsere Aufmerksamkeit zurückerobern? Der Informatiker David M. Levy von der University of Washington beschäftigt sich seit über zehn Jahren bereits damit, wie man die Ablenkungen von sich fernhalten oder zumindest die negativen Konsequenzen verringern kann. Dafür müsse man sich immer wieder beobachten: „Wenn wir nachspüren, was wir in unserem Körper, in unseren Gedanken und Gefühlen erleben, wenn wir online sind, entdecken wir schnell, wann und warum wir den Faden verlieren", so Levy. Dafür sei es hilfreich, seine Aufmerksamkeit immer wieder auf Atem, Haltung und Gedanken zu richten. Dabei würden viele beispielsweise feststellen, dass sie die Luft anhalten oder nervös werden vom Hin- und Herklicken. „Allein die Erkenntnis, dass ich ohne Sinn und Verstand durch meinen Facebook-Newsfeed scrolle, ist viel wert. Ich merke dann vielleicht, wie angespannt ich bin, und mir wird bewusst, dass das an der E-Mail liegt, die ich gerade bekommen habe. Wichtig ist, dass ich den Moment erkenne, an dem ich meinen Fokus verloren habe und an dem ich die Wahl hatte, zu meiner Arbeit zurückzukommen", meint der Informatiker.
Aber nicht nur das Bewusstwerden währenddessen ist wichtig. Am besten, man beginnt mit seiner persönlichen Medienhygiene schon vorher. „Aus ärztlich-therapeutischer Sicht stellt sich für mich die Frage, was gesundheitsförderlich ist. In diesem Sinne ist klar, dass es Zeiten und Räume geben muss, in denen Bildschirmmedien ausgeschaltet sind, damit wir nicht ständig gestört werden. Wenn ein Gerät ständig piepst und irgendetwas von uns will, schaden wir uns, weil wir die Menschen um uns herum aus den Augen verlieren", erläutert te Wildt.
Wichtig, den Reiz ausfindig zu machen
Konkret bedeutet das: die Flut an Reizen minimieren. Das gelingt zum Beispiel, indem man sich ruhige Arbeitsbedingungen schafft, feste E-Mail-Zeiten organisiert und das Handy in bestimmten Zeiten ausstellt. Wer sich zudem noch bewusst reizarme Auszeiten organisiert, entlastet das Arbeitsgedächtnis und erhält sich so die Fähigkeit, aufmerksam zu bleiben und das Wesentliche im Blick zu haben. Um sich so zu organisieren, hilft es, sich zunächst einen Überblick über seine Routinen zu verschaffen. Die Neurowissenschaftlerin Maren Urner, die das Buch „Schluss mit dem täglichen Weltuntergang: Wie wir uns gegen die digitale Vermüllung unserer Gehirne wehren" geschrieben hat, rät dazu, ein Medientagebuch zu führen. Wann nutze ich welche Medien, wie lange und warum. Hat man die eigenen Abläufe ausfindig gemacht, solle man mit alternativen Belohnungen experimentieren. Die Frage hierbei sei, was unser Verhalten wirklich antreibe. „Vielleicht sehne ich mich im stressigen Alltag voll großer und wichtiger Aufgaben nach einem Zeitvertreib, der schnelle Ergebnisse liefert. Die meisten E-Mails sind schnell gelesen und beantwortet, und danach habe ich das trügerische Gefühl, ‚etwas geschafft zu haben‘. Oder geht es mir um das Gefühl, gebraucht zu werden, also letztendlich um einen sozialen Reiz?", erläutert es Urner. Je nach Bedürfnis könne man alternatives Verhalten wie etwa einen Spaziergang oder ein Gespräch mit Kollegen ausprobieren.
Zudem sei es wichtig, den Reiz ausfindig zu machen, der das Verhalten überhaupt auslöst. Hierfür schlägt sie vor, im Tagebuch fünf Kategorien zu notieren: Ort, Zeit, emotionaler Zustand, andere Menschen und direkt vorausgehende Handlung. So könne man beispielsweise feststellen, dass man immer in der Bahn Mails checkt oder wenn man gestresst ist. Wer dann sowohl seine Routinen als auch die Belohnung und den Reiz kennt, kann seine Gewohnheiten ändern. Dafür müsse man die Gewohnheitsschleife unterbrechen. Wer beispielsweise immer dann, wenn er gestresst ist, seine Mails checke, könne sich ein Post-it mit „Aufstehen" an den Bildschirm kleben und stattdessen eine Runde gehen oder sich ein Glas Wasser holen – solange bis diese neue Gewohnheit etabliert ist. Sich das eigene Verhalten bewusst zu machen und es aktiv zu ändern, sei oft gar nicht so einfach. Dennoch lohnt es sich, die Aufmerksamkeit öfter mal nach innen statt nach außen zu richten.