Das „Calcutta" eröffnete vor 52 Jahren in der Bleibtreustraße. Seither sozialisierten sich dort Generationen von Berlinern kulinarisch mit Tandooris, Currys und Co.
Es gibt ein Haus in der Bleibtreustraße, in dem wohnen „alle Götter unter einem Dach". Zumindest auf einem Holzrelief im hinteren kleinen Raum des „Calcutta", das so bezeichnet wird. Die Hindu-Götter haben seit 52 Jahren dem Restaurant ihren segensreichen Dienst erwiesen: 1967 eröffnete es und darf sich wohl das älteste indische Restaurant Berlins nennen. Seither ist es am selben Ort, auf dem Abschnitt zwischen Mommsen- und Niebuhrstraße, zu finden.
So kam es unlängst beim beruflichen Essengehen zu einem denkwürdigen Wiedersehen. „Ich habe dich damals hier gesehen, du kamst mir entgegen, als ich die Tür öffnete", sagte Besitzer Ashok Kachroo zu meiner kulinarischen Begleiterin Malti Taneja. Sie ist die Tochter des ersten Besitzers des Restaurants. Avinash Taneja hatte 1967 das „Calcutta" eröffnet. Ashok Kachroo übernahm 21 Jahre später. 1986 hatte es der Frankfurter auf einem Abstecher nach Berlin in Augenschein genommen.
Ehe ich mich versehe, ist die Freundin mit Mr. Kachroo zu einem Rundgang durch die Räume verschwunden, in denen sie praktisch aufwuchs. „Das ist jetzt doch ganz schön bewegend", sagt sie, als wir uns im vorderen Gastraum wiedertreffen. „Nur dass mir als Kind immer alles sehr viel größer vorkam." Ich habe mich mit Shanti Blumm-Kachroo, der Tochter des heutigen Besitzers, bereits vorne niedergelassen. „Die Malereien sind immer noch dieselben", stellt Malti Taneja fest. Ja, die pastellfarbenen ländlichen Szenen seien „noch aus der Taneja-Zeit", bestätigt Ashok Kachroo. Ein amerikanischer Künstler, „ein Hippie", an dessen Namen sich aber keiner mehr erinnert, habe sie vor 40 Jahren gemalt.
Wir stoßen zur Feier des Tages mit einem Glas indischem Wein an. Ja, genau. Indien ist zwar gemeinhin nicht als große Weinnation bekannt. Einige Winzer haben sich dennoch in den vergangenen zwei Jahrzehnten um den Traubenanbau und die Weinherstellung verdient gemacht. Also bitte gern der 2018er Sauvignon vom Weingut Sula! Indiens Sonne lacht uns schnauzbärtig vom Etikett entgegen. Der Weiße aus Nashik im Bundesstaat Maharashtra erweist sich als leichter, grüner und hauchzart angepfefferter Begleiter zu den ersten Papadams und Chutneys.
Zur Einstimmung einige Klassiker
Das Ambiente ist des Wiedersehens würdig: Die Tische im „Calcutta" sind weiß und mit Stoffservietten eingedeckt. Es wirkt, gerade an einem kalten, dunklen Winterabend, heiter, heimelig und ohne bedrängende Folklore. Wir vernaschen ein paar Klassiker zur Einstimmung: Chicken Tikka und Kesari Tikka-Stückchen. Das Chicken Tikka entsprang Spieß und Tandoor-Ofen so rötlich in Joghurt und Masala mariniert, wie es sich gehört. Beim Chicken Kesari Tikka erreichen uns die Hühnerstückchen goldgelb mit Safran gewürzt.
Als der Fotograf dazustößt, darf es für ihn ebenfalls gern indisch im Glas zugehen. Aber nicht mit Chai, Lassi oder Wein, sondern mit einem „Kingfisher"-Bier. Bier und Wein munden außerdem gleichermaßen gut zu Starter Nummer drei, einem Spinat-Kebap. Wir tunken Fleisch und Spinatbällchen umschichtig in die Joghurt-Minze-Sauce sowie in Tamarind- und Mango-Chutney ein, lassen milde oder scharfe Papadams dazu knacken und verfolgen die Geschichte des Restaurants weiter.
Ashok Kachroo lässt es sich nicht nehmen, sich zu uns an den Tisch zu setzen und zu erzählen. Als er 1988 mit seiner Familie nach Berlin übersiedelte, hatte der Ingenieur und Geschäftsmann schon seine erste und zweite Karriere in Frankfurt am Main hinter sich. „Vor 50 Jahren bin ich nach Deutschland gekommen und habe als Ingenieur bei Siemens gearbeitet." Die Liebe zum heimischen Essen, der Wunsch, eine Anlaufstelle für Menschen aus der alten Heimat zu haben und ein geselligeres Leben zu führen, spielten eine Rolle bei der Entscheidung, ein Restaurant zu übernehmen. Seither ist sein Platz hinter der langen Bar im „Calcutta", der Schaltzentrale linkerhand, die so erst in der Kachroo-Ära eingebaut wurde. 1988 hatte sich „die" indische, also de facto die nordindische, Küche in Berlin schon durchgesetzt.
Anfangs war das nicht so einfach. „Das ‚Calcutta‘ lief längere Zeit defizitär", weiß Malti Taneja. „Die Leute kamen herein und wollten ihr Brathuhn oder Schnitzel bestellen." Dass es „nur" Tandoori Chicken gab, stieß keineswegs immer auf Gegenliebe. Die Gewöhnung daran führte über das benachbarte „Go In". Es gehörte Avinash Taneja ebenfalls. „Es gab eine Durchreiche vom Restaurant zur Kneipe." Wer Folk im „Go In" hörte, bekam indisches Essen aus dem „Calcutta" zur Musik.
2019 bereitet uns die Auswahl aus verschiedensten Currys oder Tandoori-Gerichten keine Schwierigkeiten mehr. Indisch zu essen, ist ganz normal, die Entscheidung rasch getroffen: Ein Chicken Jalfrezi, Prawn Tikka und Palak Paneer sollen es sein. Dazu Reis und verschiedene Brote. Ein dunkleres Roti aus Vollkornmehl, ein Pashaveri Naan, und ein Koriander-Naan werden für uns an den Wänden des Tandoor-Ofens gebacken. Vor allem das goldgelb mit Ei bestrichene und mit Mandelstückchen gebackene Pashaveri Naan gefällt mir. Es ist mild und durch die Mandeln etwas bissig. Damit passt es gut zum cremigen Palak Paneer. Der Klassiker aus Weißkäse und Spinat ist ein sanfter Vertreter seiner Art. Das Gericht steht nicht besonders lange im Kupfertopf auf dem Stövchen. Wir essen es nämlich ratzeputze auf und bestellen sogar eine zweite Portion.
Zum Abschluss ein Kahwa-Tee
Die gegrillten Prawns wollen aus der gusseisernen Pfanne genommen und aus der Schale ausgepackt werden, bevor wir sie genüsslich verspeisen. Pikant wird’s dagegen beim Chicken Jalfrezi. Das Hühnerbrustfilet ist in ein Curry mit Erbsen gebettet. Reis oder Brot fangen die schärferen Noten bei Bedarf ein. Die Preise für das Essen sind sehr verträglich: Die Hauptgerichte kosten um die 15 Euro, die Starter zwischen 5,50 und sieben Euro.
Ashok Kachroos Plan ging in den vergangenen 31 Jahren auf – das „Calcutta" wurde zu einem Lebensort. „Ich habe viele Freunde, die immer bei uns im Restaurant, aber noch nie bei uns zu Hause waren", sagt Shanti Blumm-Kachroo. Die 29-Jährige wuchs gleich um die Ecke auf. Auch ein Cousin von Malti Taneja sei regelmäßig Gast. „Gestern erst war er auf einen Tee da", sagt Shanti Blumm-Kachroo. „Und deine Mutter treffe ich oft bei Veranstaltungen in der indischen Botschaft." Beide Gastronomie-Töchter machten dieselben Erfahrungen: „Ich habe meine ersten Schritte hier gemacht", sagt Malti Taneja. „Ich auch", sagt Shanti Blumm-Kachroo. Nur eben um gut 20 Jahre versetzt. Ashok Kachroo, inzwischen 74 Jahre alt, ist nach wie vor beinah jeden Tag im Restaurant und der den vielen Stammgästen wohlbekannte Gastgeber.
Bei den Desserts geraten wir schließlich alle ins Schwelgen. Ein Mango Delight mit Joghurt, Mangos, Limette, einem Hauch Muskatnuss und Mandeln versetzt die Freundin in entsprechendes Entzücken. Der Fotograf und ich sind „Team Kulfi": Das sahnige Eis mit Safran, Kardamom, Mandeln und Pistazien ist unser hüftgoldlastiger Favorit. Bei so viel Geschichte und Geschichten sind wir schon beinah in die Familie eingemeindet. Ashok Kachroo lässt es sich nicht nehmen, uns zum Abschluss einen Kahwa-Tee einzuschenken. „Wir sind Kashmiris", sagt er. Da gehöre der mit Safran, Mandeln, Zimt und Kardamom versetzte Grüntee dazu. Stilecht wird er in einer raffinierten Messingsamowar-Kanne zubereitet, die Rauchzeichen gibt, wenn der Tee fertig ist. „Kahwa-Tee bringen wir jedes Mal nach Berlin mit", sagt Shanti Blumm-Kachroo.
Geht es nach Ashok Kachroo, geht es noch lange genauso weiter mit dem Lebensort und -mittelpunkt „Calcutta". Es ist täglich geöffnet. Von einem Ruhetag will der Chef nichts wissen. „Das diskutieren wir noch, Papa", sagt die Tochter. Mit welchem Ausgang bleibt vorerst offen. Die Tochter wird das Lokal zumindest in absehbarer Zeit nicht übernehmen. Sie ist Senior Area Sales Manager in einer Hotelgruppe in Berlin und hat privat andere Pläne, die sie eher in die Heimat ihres Vaters führen werden. Um das „Calcutta" werden sich die Berliner hingegen wohl keine Sorgen machen müssen: Nach 52 Jahren am selben Ort ist es eine Institution geworden und verfügt geradezu über das ewige gastronomische Leben.