Warum soll ein Quarterback eigentlich immer nur werfen? Lamar Jackson von den Baltimore Ravens trägt den Ball gern auch selbst in die Endzone und macht seinen Club auf diese Weise zum Topfavoriten für den Super Bowl.
Am Ende blieb der Sieg wenigstens in der Familie, dürfte sich Jim Harbaugh gedacht haben, Coach der San Francisco 49ers, nachdem er mit seiner Mannschaft 2013 im Super Bowl mit 31:34 den Baltimore Ravens unterlegen war. Immerhin war der Trainer der Gegenseite sein Bruder John Harbaugh.
Das hatte es bei der größten Sportshow der Welt auch noch nicht gegeben. Mittlerweile hat Jim Harbaugh der National Football League den Rücken gekehrt, seit 2015 betreut er das College-Team der University of Michigan. Bruder John ist hingegen nach wie vor in der NFL tätig und peilt sieben Jahre nach dem letzten Erfolg mit Baltimore erneut den Super Bowl an. Das Finale steigt in diesem Jahr am 2. Februar in Miami Gardens in Florida; Austragungsort ist das Hard Rock Stadium, sonst Heimstätte der Miami Dolphins. Die Ravens zählen zu den Topfavoriten auf den Titel.
Mögliche Gegner im Endspiel sind dabei ausgerechnet wieder die San Francisco 49ers, bei denen jetzt Cheftrainer Kyle Shanahan das Sagen hat. Vor dem Start der ersten Playoff-Runde am 4. und 5. Januar werden auch die Kalifornier hoch gehandelt, deren Saison unabhängig von ihrem Ausgang schon jetzt ein Erfolg ist. Im Vergleich zum Vorjahr hat das Team des deutschen Profis Mark Nzeocha einen deutlichen Schritt nach vorn gemacht. Damals hatten die 49ers lediglich vier Spiele gewonnen, mit zwölf Niederlagen war man am Ende das zweitschlechteste Team der gesamten Liga knapp vor den Arizona Cardinals (3-13).
Seattle Seahawks mit einer starken Offensive
In dieser Spielzeit hatte der Club bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe bereits elf Siege eingefahren. Längst träumen die Fans von einer Neuauflage der glorreichen 1980er- und 1990er-Jahre, als San Francisco unter Führung der Star-Quarterbacks Joe Montana und Steve Young insgesamt fünfmal die Meisterschaft gewann. Tatsächlich gehört insbesondere die Defensive zu den besten in der NFL, vor allem Rookie Nick Bosa hat auf der Position des Defensive Ends auf Anhieb überzeugt. „Dafür, dass er noch so jung ist, benimmt er sich sehr reif. Normalerweise sind Rookies ruhig und geben dir nicht wahnsinnig viel. Aber wenn er Dinge sieht, gibt er dir sogar Ratschläge. Wenn er das Gefühl hat, dass er hier und da etwas entdeckt hat, dann gibt er dir Tipps", hatte Bosas Teamkollege Ronald Blair bereits kurz nach Saisonstart gegenüber dem Magazin „The Athletic" bemerkt.
Dagegen war in der Offensive das Laufspiel teilweise wenig überzeugend, und auch Quarterback Jimmy Garoppolo warf einige Interceptions zu viel. Einige Experten verweisen zudem auf den relativ einfachen Spielplan der 49ers und sehen deshalb unterm Strich andere Mannschaften in der NFC (National Football Conference) leicht vorn.
Das gilt zum Beispiel für die New Orleans Saints, die sich ein Jahrzehnt nach ihrer letzten Meisterschaft aus dem Jahr 2010 erneut die Krone des Footballs aufsetzen wollen. Der Club aus Louisiana liefert bislang wieder einmal eine starke Saison ab: Als erster Verein qualifizierte man sich für die Play-offs und sicherte sich zugleich im dritten Jahr in Folge den Divisionstitel in der NFC South. Nun hofft man für die Endrunde auf etwas mehr Glück als zuletzt, nachdem man dort in den vergangenen beiden Spielzeiten jeweils auf tragische Weise gescheitert war.
2018 sahen die Saints im Halbfinale gegen Minnesota schon wie der sichere Sieger aus, ehe die Vikings die Partie mit dem allerletzten Spielzug noch drehen konnten. 2019 vereitelte dann eine Fehlentscheidung der Schiedsrichter den Traum vom Finaleinzug: Gegen die Los Angeles Rams standen die Saints kurz vor Schluss noch einmal an der Endzone, doch beim Passversuch von Quarterback Drew Brees auf Tommylee Lewis wurde dieser von seinem Gegenspieler Nickell Robey-Coleman regelwidrig zur Seite geschubst. Der fällige Pfiff der Schiedsrichter blieb jedoch aus. Anstelle eines Touchdowns erzielte New Orleans lediglich ein Fieldgoal, das die Rams kurz darauf ausgleichen konnten, nur um dann in der Verlängerung den Sieg davonzutragen. Für 2020 hoffen die Saints nun darauf, dass aller guten Dinge tatsächlich drei sind. Vor allem ein Spieler hat sich dabei offenbar etwas vorgenommen: Wide Receiver Michael Thomas war vor Weihnachten auf dem besten Weg, den NFL-Rekord von Marvin Harrison für die meisten gefangenen Pässe in einer Saison zu überbieten.
Aber auch die Seattle Seahawks sind nicht zu unterschätzen, die 2014 ebenfalls schon einmal die Vince-Lombardi-Trophäe in Händen hielten. Der Club von der Pazifikküste zählt zu den stärksten Offensivteams, besonders das Laufspiel kann sich sehen lassen. Zuletzt kursierte das Gerücht, dass Amazon-Chef Jeff Bezos über einen Einstieg bei den Seahawks nachdenkt. Es waren allerdings auch noch andere Clubs im Gespräch. Das Erreichen des Super Bowls wäre aus Sicht von Seattle sicher kein schlechtes Bewerbungsschreiben, um den reichsten Mann der Welt – mit einem geschätzten Vermögen von 121 Milliarden US-Dollar – von einem Engagement zu überzeugen.
Angesichts dieser Konkurrenz ist das Erreichen des Finals für San Francisco also keineswegs sicher. Dagegen ist der Kreis der Spitzenteams, denen die Fachleute den Sprung in den Super Bowl zutrauen, in der AFC (American Football Conference) deutlich kleiner. Ganz vorn in der Reihe stehen dabei die schon erwähnten Baltimore Ravens. Der Club – benannt nach dem in der Stadt gestorbenen Schriftsteller Edgar Allan Poe und seinem Werk „The Raven" („Der Rabe") – hat in dieser Saison fast alle Konkurrenten zum Teil deutlich geschlagen: die 49ers, Seattle, den Vorjahresfinalisten Los Angeles Rams sowie Titelverteidiger New England Patriots; die drei Letztgenannten sogar jeweils mit mehr als zehn Punkten Differenz. Damit stellt Baltimore die beste Offensive der Liga.
„Jackson ist ein absolutes Ausnahmetalent"
Beim 37:20 gegen Vorjahreschampion New England war es wieder einmal der junge Quarterback Lamar Jackson, der dem Spiel mit einem geworfenen und zwei selbst erlaufenen Touchdowns seinen Stempel aufdrückte. Längst gilt der 22-Jährige als großer Favorit für die Wahl des wertvollsten Spielers der Saison. Seine Athletik ist außergewöhnlich, und mit seiner unkonventionellen Spielweise bereitet er jeder Abwehrreihe Schwierigkeiten. Wenn sich keine freie Passoption findet, läuft Jackson gern auch selbst – seine Statistiken sind besser als die der meisten Running Backs. Erst als zweiter Spieler in der Geschichte übertraf er die Marke von 1.000 erlaufenen Yards in einer Saison. Einst war Jackson für seine Art belächelt worden, doch mittlerweile sind die Kritiker verstummt. „Weißt du, wie viele kleine Kinder in diesem Land in den nächsten 20 Jahren die Nummer 8 als Quarterback tragen werden?", meinte sein Trainer John Harbaugh unlängst zu ihm. Woraufhin Jackson antwortete: „Ich kann kaum erwarten, es zu sehen, wenn ich älter werde. Aber jetzt muss ich erst einmal in den Super Bowl." Auch der deutsche Ex-Profi und jetzige TV-Experte Sebastian Vollmer zeigte sich im Gespräch mit dem Sender Sport1 schwer beeindruckt: „Jackson ist ein absolutes Ausnahmetalent, gar keine Frage. Er hat aber vor allem auch die richtige Einstellung. Er denkt nicht, er sei der Coolste und Beste, sondern er will sein Team zum Erfolg führen. Dafür macht er alles und spielt alles aus."
Eine Hürde müssen die Ravens auf dem Weg in den Super Bowl allerdings aus dem Weg räumen, und das ist ausgerechnet Vollmers Ex-Club: die New England Patriots. Zwar trat die Mannschaft um Quarterback-Legende Tom Brady in dieser Saison trotz guter Bilanz bislang keineswegs überzeugend auf – selbst der Divisionstitel gegen die starken Buffalo Bills war enger umkämpft als sonst. Die Offensive Line wackelte gelegentlich, im Passspiel fehlten Brady die Optionen und auch der Altmeister selbst wirkte an einigen Tagen vor allem alt. Doch wenn es in den Play-offs darauf ankommt, war das beste Team der jüngeren Vergangenheit zuletzt stets in Bestform. „Wir müssen weiterhin die Dinge tun, die eine Stärke von uns waren und die Dinge beseitigen, die es vielleicht nicht waren", so Brady. Niemand wird den Fehler machen und den Titelverteidiger unterschätzen, wenngleich insgeheim viele in den USA auf ein Ende der Patriots-Ära hoffen. Die Baltimore Ravens haben dagegen zumindest einen Anhänger mehr als bei ihrer letzten Meisterschaftskampagne. Anders als vor sieben Jahren dürfte Jim Harbaugh dieses Mal seinem Bruder die Daumen drücken.