Während Wladimir Putin weiterhin davon überzeugt ist, dass die Dopingsperre der Wada politische Hysterie sei, suchen längst nicht mehr all seine Landsleute die Schuld im Ausland.
Viele russische Sportler würden gern mal wieder ihre Hymne hören, wenn sie auf dem Podest stehen. Eine davon ist die russische Hochspringerin Marija Lassizkene. Bei der Leichtathletik-WM in Katar holte sie ihren dritten WM-Titel in Serie – und zum zweiten Mal wurde ihre Hymne nicht gespielt. Sie ist wie alle ihre Landsleute von den Dopingstrafen gegen Russland betroffen. Diese Woche hat die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada die Nation Russland für vier Jahre gesperrt – dazu zählt auch ein Flaggen- und Hymnenverbot bei globalen Sportgroßereignissen. „Ich sollte morgens nicht aufwachen und mich fragen, ob ich heute starten darf oder nicht", schrieb sie in einem offenen Brief. Sie habe Fragen an ihren Verband, warum das noch bis 2024 so weitergehen soll. Die offiziellen Sprachrohre aus Russland sprechen von einer Verschwörung des Westens. Die Aussagen der besten Hochspringerin der Welt untermauern: Diese Geschichte des bösen Westens glauben längst nicht mehr alle. In ihrem Brief sucht Lassizkene die Schuld nämlich nicht im Ausland. „Was ist eigentlich bei uns passiert?", schreibt sie. „Falls die Verantwortlichen für den Dopingskandal bestraft wurden, warum hat sich dann kaum was geändert? Wissen die eigentlich, dass unser Sport aus unseren Städten und vom Fernsehen verschwindet?" Der Brief liest sich wie die Anklage einer enttäuschten Athletin. Mit dieser Meinung ist Lassizkene wohl nicht alleine. Denn dieses Verbot trifft vor allem die Sportlerinnen und Sportler Russlands, die, egal wie sauber sie sind, misstrauisch von ihrer Konkurrenz betrachtet werden. Der liberale Politikwissenschaftler Iwan Preobraschenski schrieb: „Mein Beileid den russischen Sportlern, die zu Geiseln der Drecksäcke geworden sind." Das politische Establishment hingegen reagierte so wie bisher. Wladimir Putin sagte, die Strafe sei „politisch motiviert". Er rief dazu auf, gegen die Strafe vorzugehen. Die Entscheidung sei Teil der „antirussischen Hysterie", fügte der Premierminister Dmitri Medwedew an. Auch wenn er immerhin gestand, dass man Probleme mit Doping im Land habe. „Ich kann das nicht leugnen."
Eine Verschwörung des Westens?
Vermehrt treten aber auch kritische Stimmen über diese Strafe auf, denn „die anderen dopen ebenfalls", von einer Doppelmoral ist die Rede. Auch das Nike Oregon Projekt in den USA verdient Beachtung, Ermittlung und gegebenenfalls Strafe, ebenso die zerschlagenen chinesischen Dopingproben, die rauen Asthmamittelmengen des norwegischen Teams, die kenianische Nachsicht bei ihren laufenden Volkshelden oder das Erfurter Dopingnetzwerk. Der Unterschied zum russischen Betrug ist aber dennoch groß und war so höchstens in der DDR zu finden. Russland beging sogar Vertragsbruch. Die Wada hatte das russische Anti-Doping-Labor im September 2018 unter einer Bedingung wieder akkreditiert: Die Russen sollten den Datensatz der Jahre 2012 bis 2015 liefern, um ihren bis dahin bereits bekannten Skandal in Gänze aufzuklären. Die Daten, die das Labor lieferte, waren tatsächlich wieder tausendfach gefälscht, offenbar bis in den Januar 2019. Sogar erfundene Daten waren darunter, um falsche Fährten zu legen. Wada-Kritikerinnen wie die deutsche Athletensprecherin Silke Kassner dürfen sich heute bestätigt fühlen. Sie hatte 2018 gesagt: „Es erlischt heute der letzte Funken Glaubwürdigkeit." Mittlerweile ist davon gar nichts mehr übrig.
Premierminister räumt Dopingprobleme ein
Die Kritik an Russland wird schon deshalb nicht verstummen, weil von der Strafe am Ende gar nicht mehr viel übrig bleibt. Die WM der Rodler dürfte eigentlich nicht wie geplant im kommenden Februar in Sotschi stattfinden. Doch es gibt ein Schlupfloch: Wenn es rechtlich und praktisch unmöglich ist, die WM zu verlegen, bleibt alles wie gehabt. Denn es ist durchaus fragwürdig, ob Putin sich die Eishockey-WM 2023 in seiner Heimatstadt St. Petersburg, in der die größte Eisarena Europas gebaut werden soll, wieder wegnehmen lässt. Der Schweizer René Fasel, Präsident des Welthockeyverbandes, klingt nicht so, als wäre das in seinem Sinne: „Wir dürfen nun nicht den Kopf verlieren und wie die Wada über das Ziel hinausschießen." Dem Weltsport stehen chaotische Monate bevor. Vieles ist unklar, lange Prozesse stehen im Raum. Es wird das gleiche zähe Ringen wie schon vor den Spielen in Pyeongchang erwartet, wo 168 Russinnen und Russen an den Start gingen. Einige Ausschlüsse russischer Sportler kassierte das Internationale Sportgericht nur Tage vor den Wettkämpfen. Und am Ende sangen die Eishockeyspieler nach dem Turniersieg ihre Hymne. „Ich wollte Sanktionen, die nicht verwässert werden können", sagte die norwegische Vizepräsidentin der Wada, Linda Helleland, nach dem Beschluss der Wada. „Ich fürchte, dies ist nicht ausreichend." Der frühere Wada-Ermittler Jack Robertson, der die Untersuchungen gegen Russland 2016 einleitete, ergänzte: „Statt die Wada einen Anti-Doping-Wachhund zu nennen, wäre es besser zu sagen: Die Wada ist ein russischer Schoßhund." Viele Athleten hatten sich einen Komplettausschluss Russlands gewünscht. Victoria Aggar trat aus Protest aus der Wada-Athletenkommission zurück und sagte: „Ich habe das Gefühl, die Wada existiert nicht mehr." Die Ereignisse der vergangenen beiden Jahre hätten ihren Glauben an eine Organisation, „bei der ich das Gefühl hatte, dass sie anfangs einen großartigen Zweck erfüllte, die Integrität des Sports zu schützen, fundamental erschüttert". Sie könne nicht länger Teil einer Organisation sein, die Politik über Prinzipien stelle. „Zu viele politische Spiele (oder Machenschaften), zu viele Konflikte und zu viel Eigeninteresse haben zu zu vielen schlechten Entscheidungen, Kompromissen und gebrochenen Versprechungen geführt". Es sei der „größte Schlag" für die Athleten, dass die Wada die Forderungen ihres eigenen Athletenkomitees ignoriert habe, schrieb Aggar in einer Mitteilung auf ihrer Internetseite. Die ehemalige Ruderin, die 2008 Bronze in Peking gewann, gehörte zu neun von 17 Mitgliedern des Athletenkomitees, die sich für einen Komplettbann Russlands ausgesprochen hatten.
Es gibt auch Kritik an der Wada
Die russische Weltklassespringerin Lassizkene kann diesen Unmut wohl verstehen, denn sie erachtet nicht die Strafe der Wada als politisch motiviert, sondern den russischen Betrug. Putin wäre wohl auch nicht erfreut, wenn der japanische Geheimdienst es dem russischen nachmachen würde und positive Dopingtests verschwinden lassen würde. Lassizkenes Brief zeigt, es gibt auch russische Athletinnen und Athleten, die einen fairen Sport wollen. Solche, die in zehn oder 20 Jahren keine Dopingopfer sein wollen und nicht in einen gnadenlosen Abnutzungskampf geschickt werden wollen. Solche die nicht fliehen und sich verstecken müssen, wenn sie nicht mitmachen, bei diesem Spiel. Sie erheben nun zum ersten Mal die Stimme.