Vieles spricht dafür, dass das Zeitalter plakativer Sexiness in der Mode ein Ende nehmen könnte. Die von religiösen, vor allem muslimischen Gruppen initiierte Hinwendung zu sittsam-bedeckenden Kleidungsstücken, Modest Fashion getauft, ist derzeit weltweit stark auf dem Vormarsch.
Kaum zu glauben, dass die allein auf abendländisches Schönheitsideal und westliche Kultur fixierte internationale Modeindustrie jahrzehntelang einen milliardenschweren Markt verschlafen hat. Zwar wurde in den Metropolen des Nahen Ostens eine Luxus-Boutique neben der anderen eröffnet, doch ohne zu berücksichtigen, dass die dort ansässigen vermögenden muslimischen Damen die eher freizügige Mode wegen religiöser Beschränkungen diese aber meist gar nicht kaufen konnten. Keiner kam auf die Idee, speziell für diese kaufkräftigen Ladys hochgeschlossene, bodenlange sowie weit geschnittene Teile zu entwerfen, sondern man beließ es bei einem besonders auch in den westlichen Boulevardmedien häufig anzutreffenden mitleidigen Belächeln der gesellschaftlich vorgeschriebenen Kleiderordnung.
Unproblematisch ist für muslimische Frauen aus dem Nahen Osten bislang allein der Kauf von hochwertigen Accessoires wie Luxus-Handtaschen oder Schuhen, eine Gelegenheit, die sie so reichlich ausnutzen, dass inzwischen ein Drittel der weltweiten Haute-Couture-Kundinnen aus dieser Region stammt. Die Mehrzahl dieser modebewussten und fashionbegeisterten Klientel ist vergleichsweise jung. In der arabischen Welt gibt es mehr Millenials als sonst wo auf der Erde. Bis zu 60 Prozent der gesamten Bevölkerung in der Region sind unter 26 Jahre alt. Ihr Interesse an Mode, persönlichem Stil, Kunst oder Technologie ist riesengroß. Ihr Kaufkraftpotenzial wird als geradezu gigantisch eingeschätzt, der Markt für den von der britischen „Vogue" 2018 auf den Namen „Modest Fashion" getauften Trend wird auf derzeit mehr als 240 Millionen Dollar taxiert, für 2021 wird schon ein rasanter Anstieg auf rund 368 Millionen Dollar prognostiziert. Modest Fashion wird zu einem der am schnellsten wachsenden Segmente des gesamten internationalen Wirtschaftslebens gerechnet. Um gleich ein in vielen hiesigen Medien häufiges Missverständnis in der Übersetzung des Wörtchens „modest" auszuräumen, sei hier schon mal darauf hingewiesen, dass „modest" in diesem Zusammenhang nicht im Sinne von „bescheiden" zu verstehen ist, sondern in einer älteren Bedeutung als „sittsam".
Auf der Suche nach Modest Fashion blieb durchaus modeaffinen muslimischen Frauen, aber auch eher fundamentalistisch gläubigen Christinnen oder Jüdinnen jahrzehntelang nichts weiter übrig, als das Sortiment der Nobelmarken nach blanker Haut verhüllenden Stücken zu durchforsten. Das konnten Präriekleider ebenso sein wie weite Blusen mit Volumenärmeln, lange Oversized-Mäntel oder bodenlange, kittelähnliche Smock Dresses.
Mipster sind muslimische Hipster
Die Alternative, nämlich traditionell geschnittene und modisch etwas aufgepeppte Klassiker à la Abaya, wie sie in den letzten Jahren von einer jungen Designerinnen-Generation in den reichen Golfstaaten für die Zielgruppe der sogenannten Mipster, der muslimischen Variante der westlichen Hipster, entworfen wurden, war für die meisten dort lebenden Damen wenig zufriedenstellend. Denn ihr Marken-Fetischismus ist durchaus auf dem gleichen Level wie der der westlichen Fashionistas angesiedelt. Und vielen sogenannten Hijabistas (Kurzform aus Hijab und Fashionista) gefällt es nicht mehr, dass sie ihre extravaganten westlichen Klamotten nur unter den klassischen Verschleierungen tragen und allenfalls im privaten Umfeld präsentieren können. Sie hofften darauf, dass Gucci, Louis Vuitton & Co. endlich speziell auf ihre Bedürfnisse ausgerichtete Kleidung entwerfen würden.
Chanel war 2013 eine der ersten Luxus-Brands, die vorsichtig den neuen Markt getestet hatte – und zwar mit einer Resort-Kollektion aus goldenen Pumphosen, Bouclé-Tuniken und Aladdin-Pantoffeln. Im Sommer 2014 folgte DKNY mit einer gezielt auf den Nahen Osten ausgerichteten „Ramadan-Kollektion". H&M hatte 2015 mit Mariah Idrissi das erste Hijab-tragende Model unter Vertrag genommen. Der Mode-Online-Versender Net-à-porter richtete bereits 2015 eine eigene Modest-Rubrik unter der Bezeichnung „The Ramadan Fashion Edit" ein. Auch die Kreationen von Marken wie Arket, Cos oder Weekday fanden schnell dank aufgebauschter Silhouetten viele Anhängerinnen in der muslimischen Welt. Der britische „Guardian" zählte auch die langjährige Chloé-Chefin Phoebe Philo zu den frühen Vorreiterinnen des neuen Modest-Looks. Auch die Olsen-Schwestern von The Row oder Erdem Moralioglu von Erdem könnten in diesem Zusammenhang erwähnt werden, weil sie schon immer bekanntermaßen mehr auf jede Menge Stoff als auf nackte Haut Wert legen. Dolce & Gabbana waren 2016 erstmals mit auf die arabische Kundschaft maßgeschneiderten Hijabs und Abaya-Mänteln zur Stelle. Und auf der New York Fashion Week sorgte das Label der Designerin Anniesa Hasibuan mit ihrer Kollektion für Muslimas inklusive zahlreicher Hijabs für Aufsehen.
Doch so richtig Fahrt sollte der Trend, den die „New York Times" noch 2017 als „radical dowdiness" (deutsch radikale Unansehnlichkeit) abgekanzelt hatte, erst dank einiger bekannter Influencerinnen wie Maria Alia, Dina Tokio, Maryam Asadulla oder Dian Pelangi aufnehmen, die auf Instagram ganz selbstbewusst einen neuen muslimischen Kleidungsstil propagierten. Selbst der muslimische Super-Star Gigi Hadid hatte sich im Frühjahr 2017 ganz züchtig für das Cover der „Vogue Arabia" samt Kopftuch ablichten lassen. Dadurch sollte laut dem „The Sydney Morning Heralds" bei manchen Designern ein Umdenken Richtung mehr verhüllender Klamotten eingesetzt haben. Die Hijab-tragenden Models Ikram Abdi Omar (für Molly Godard) und vor allem Halima Aden (beispielsweise für Max Mara, Alberta Ferretti oder Kanye Wests Label Yeezy) sorgten für Furore. Aden durfte zudem die Kopfverhüllung als erstes Laufsteg-Fräulein in der 102-jährigen Geschichte der britischen „Vogue" auf dem Cover zeigen und 2019 sogar auf dem Cover der Bademoden-Sonderausgabe von „Sports Illustrated" als erste Lady in Hijab und Burkini posieren.
Hochgeschlossen kann ebenfalls reizvoll sein
Die 2011 gegründete Modest-Fashion-Onlineplattform Modanisa etablierte ab 2017 Fashion Weeks für sittsame Mode in Dubai und London, auch in New York, Turin und Paris gibt es inzwischen ähnliche Fashion-Events. 2017 wurde auch die führende Luxus-E-Commerce-Webseite „The Modist" ins Leben gerufen, so etwas wie das Modest-Pendant zu Net-à-porter, wo inzwischen fast das gesamte Who’s who der Fashionwelt mit ausgewählten Kreationen vertreten ist, von Burberry bis Victoria Beckham. Konkurrenz hat „The Modist" von weiteren Spezial-Versendern wie „Aab" oder dem israelischen „ModLi" bekommen. Nike brachte 2017 einen Sport-Hijab auf den Markt. H&M lancierte 2018 ein ganzes Modest-Sortiment unter der Bezeichnung „LTD Collection". Mit dem Newcomer Seek Refuge tauchte auch das erste Modest-Streetwear-Label auf. Im April 2018 bewarb Net-à-porter diverse Capsule Collections, die von Marken wie Oscar de la Renta oder Jenny Peckham speziell für den Ramadan zusammengestellt worden waren.
Neben Modeketten wie Mango (mit Tuniken, Kaftanen oder Maxikleidern) oder Zara sprangen auch immer mehr Labels auf den Trendzug auf, beispielsweise Gucci (mit Pussybow-Blusen), Valentino (mit bodenlangen Kleidern), Christian Dior (mit hochgeschlossenen Shirts) oder Carolina Herrera. Sie legen ihr Hauptaugenmerk bislang vor allem auf Kopftücher, Abajas oder Hijabs und verzichten bei ausgewählten Stücken auf transparente Stoffe oder Cut-outs. Selbst Tom Ford, der in den 90er-Jahren als Gucci-Chef noch mit seinem „Sex Sells"-Slogan für Aufregung gesorgt hatte, sprach jüngst von einem Ende der „super sexy clothes" und präsentierte gleich für diesen Winter hochgeschlossene Stücke und jede Menge verhüllendes Strickwerk. 2019 ging der britische Mode-Versandriese Asos eine Kooperation mit dem auf Modest Fashion spezialisierten Label Verona Collection ein.
Google und Pinterest registrierten eine regelrechte Explosion von Modest-Fashion-Klicks, bei Google stieg die Zahl der Anfragen seit Beginn des Jahres 2019 um 500 Prozent. Auch immer mehr Youtube-Videos widmen sich dem Thema. Beim Fashion-Suchportal Lyst konnte jüngst ein Anstieg der Anfragen nach sittsamen Klamotten wie hochgeschlossenen Kleidern, langärmeligen Blusen oder Rollkragenpullovern um 145 Prozent im Vergleich zu 2018 vermeldet werden. Im Vergleich zu 2017 betrug der Anstieg sogar 217 Prozent. Dahingegen waren die Suchanfragen mit dem Begriff „sexy" deutlich rückläufig, und zwar um 20 Prozent im Vergleich zu 2018. „Die Bewegung hin zu einem bedeckteren Kleidungsstil wird von Shoppern aus aller Welt gefeiert. Dies spiegelt nicht nur gesellschaftliche Veränderungen wieder, sondern sollte Marken zunehmend ermutigen, ihr Sortiment entsprechend anzupassen", so Lyst.
Ausbeutung traditioneller Kultur?
Offenbar hat sich Modest Fashion innerhalb kürzester Zeit auch für Frauen ohne kulturelle Bekleidungsbeschränkungen als interessante Alternative zu den freizügigeren Kleidungsstücken herausgebildet. Die Zeit von allzu plakativer Sexiness in der Mode scheint abgelaufen zu sein. Promis wie Tilda Swinton oder Beyoncé tragen gelegentlich hochgeschlossene, teilweise bis zu den Oberschenkeln reichende Blusen mit langen Ärmeln, bodenlange Dresses, weiten Hosen oder Kopftüchern.
Strenge Muslime beklagen schon eine Ausbeutung oder Vereinnahmung ihrer traditionellen Kleidungskultur. Solche Vorwürfe ficht Batsheva Hay, Inhaberin des jungen US-Modest-Labels Batsheva, nicht weiter an: „Ich weiß, dass einige Leute der Meinung sein werden, dass Modest Fashion regressiv ist und einer Frau auferlegt, sie habe sich bedeckt zu halten, aber ich fühle wie die Frauen, die diese Mode anspricht: Wir wollen Dinge tragen, die Spaß machen, ohne uns Sorgen machen zu müssen, als Sexobjekt für Männer zu gelten."