Rijeka an der Adriaküste hat eine ziemlich turbulente Geschichte inklusive einer Vergangenheit als Industriestandort. Jetzt erfindet sich Kroatiens drittgrößte Stadt neu – als eine der beiden diesjährigen europäischen Kulturhauptstädte.
Nur etwa eine halbe Autostunde dauert die Fahrt vom traditionsreichen Ferienort der feinen K.U.K.-Gesellschaft, Opatija, nach Rijeka an der Kvarner-Bucht der nördlichen Adria. Und über weite Strecken verläuft die Straße parallel zum Meer, schlängelt sich an kleinen Kiesstränden und Beach Bars, aber auch an verlassen wirkenden Gewerbegebäuden aus einer längst vergangenen Zeit vorbei. Tatsächlich sei Rijeka, das sich in diesem Jahr als europäische Kulturhauptstadt touristisch und kulturell neu positionieren will, die „Boomtown" der Region im 18. und 19. Jahrhundert gewesen, erzählt Nikola, während er durch den dichten Berufsverkehr Richtung Zentrum steuert.
Suche nach einer neuen Identität
Bereits 1719 war die Stadt von Kaiser Karl VI. zum freien Hafen ernannt und zehn Jahre später die wichtige Straßenverbindung über das Gebirge nach Zagreb, die „Karolina", eingeweiht worden. Zudem wurde eine steuerfreie Zone geschaffen, was den Handel begünstigte und Investoren beispielsweise aus den Niederlanden in die Stadt lockte. Ende des 18. Jahrhunderts nahm die erste Zuckerraffinerie mit rund 1.000 Arbeitern den Betrieb auf. Dazu kam die Eisenbahnlinie von Budapest nach Rijeka, die 1873 eröffnet wurde – zuvor schon hatte es die Verbindungen zwischen Wien und Triest sowie zwischen Wien und Rijeka gegeben. Was den Handel nochmals ankurbelte, aber auch den Tourismus – vor allem im benachbarten Opatija. Zudem wurde Rijeka Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts einer der wichtigsten europäischen Häfen für Auswandererschiffe in die Vereinigten Staaten – rund 500.000 Menschen verließen von hier aus die „Alte Welt", um in der „neuen" ihr Glück zu suchen. Darunter der 1874 in Budapest geborene Erik Weisz, der später als Entfesselungskünstler Houdini Weltruhm erlangen sollte. Oder János Weissmüller, der 1905 mit seinen Eltern nach New York auswanderte, als Johnny Weißmüller einer der weltbesten Schwimmer seiner Zeit wurde und in den „Tarzan"-Verfilmungen für Furore sorgte.
Geschichte und Geschichten, man merkt es bei Nikolas Erklärungen, sind in Rijeka eng miteinander verbunden. Als Liburna war die Stadt in der Antike den Römern ein Dorn im Auge, um 700 nach Christus ließen sich in der Region die Kroaten nieder. Später kamen die Habsburger, Ende des 19. Jahrhunderts ging die Stadt an Ungarn, wurde dessen wichtigster maritimer Umschlagplatz. Nach Zerfall der Österreichisch-Ungarischen Monarchie fiel die Stadt nach kurzer Übergangsphase als Fiume an das Königreich Italien. Kein Wunder, dass man Rijeka als „ungarische Stadt, in der Kroaten Italienisch sprechen" bezeichnete. Ein international geprägter Ort also, an dem sich Einflüsse aus Österreich und Italien in Kultur, Traditionen und Lebensart mit ungarischen und kroatischen Elementen verbanden. Wie beim Morčić, einem der Maskottchen der Stadt und ihres berühmten Karnevals, ein kleiner aus Gold oder bunt glasierter Keramik geformter Mohrenkopf, auf Italienisch auch „Moretto" genannt, der traditionell als Ohrring von Fischern als Schutz vor bösen Mächten getragen wurde und dessen Herkunft auf die Belagerung der Stadt durch die Türken im 16. Jahrhundert zurückgehen könnte. Oder aber auf den Einfluss der Handelsmacht Venedig im 17. und 18. Jahrhundert, deren Schiffe nicht nur Waren aus dem Orient, sondern auch Dienstboten, junge Pagen mit Turbanen, nach Europa brachten. Heute gibt es den Moretto in allen nur möglichen Variationen – als beliebtes Karnevalskostüm, als Schmuckstück oder als Dekor für Teller und Obstschalen. So wie beispielsweise in der Galerija Bruketa, die 1974 vom Keramikkünstler Vladimir und seiner Frau eröffnet wurde und mittlerweile von den Töchtern weitergeführt wird.
Nur ein paar hundert Meter weiter in einer schmalen Straße der Altstadt hat Amna Šehović ihr kleines vor Kreativität förmlich berstendes Geschäft mit dem Namen „Šta da". Eine Redewendung, die nicht ganz leicht zu übersetzen ist, vielleicht mit einem ironischen „Was Du nicht sagst". So erklärt es Amna umgeben von Taschen und T-Shirts und bunten mit diesem Ausspruch verzierten Tassen. Sie arbeite mit einer Reihe lokaler Designer zusammen, erklärt die zierliche Frau, wolle ein kleines Schaufenster für die kreative Szene in Rijeka sein – mit einem Schwerpunkt auf Produkten, die aus recyceltem Material gefertigt sind. Taschen aus alten Planen oder Stoffen, Schmuck aus Fragmenten bunter CDs. Dass Rijeka in diesem Jahr eine der beiden europäischen Kulturhauptstädte ist, begeistert Amna. Sie spricht von einer Chance für ihre Heimatstadt, die ihre Bedeutung als Industriestandort verloren habe und nun auf der Suche nach einer neuen Identität sei.
Kontrastprogramm zur Altstadt mit ihren Sträßchen, den kleinen Plätzen mit Cafés, Brunnen und Kirchen. Das Kroatische Nationaltheater residiert an einem parkähnlichen gestalteten Platz, ein imposanter Bau mit säulenumrahmtem Eingangsportal, 1885 wurde es mit einer Aufführung von „Aida" eingeweiht. Prächtig verzierte Ränge ziehen sich durch den Theatersaal, dessen Deckengemälde unter anderem von Ernst und Gustav Klimt gestaltet wurden. Katarina Mazuran führt durch das Theater, gerade findet auf der Bühne eine Probe für „La Bohème" statt. Neben Opern und Konzerten gebe es aber auch Theateraufführungen auf Kroatisch und Italienisch sowie Tanz, betont Katarina. Außerdem sei das traditionsreiche Haus auch ein Ort im vielfältigen Programm des Kulturhauptstadtjahrs, stelle die Bühne für Auftritte international renommierter Musikensembles ebenso zur Verfügung wie für die Bühnenadaption kroatischer Literatur. Ein facettenreiches Programm, das gut zum Motto des Jahres „Port of Diversity" passe.
Kulturhauptstadt bezieht die Region mit ein
Emina Višnić und ihr vielköpfiges Team von „Rijeka 2020" haben ihre Büros für die Organisation des Kulturhauptstadtjahres in einem ehemaligen Lagerhauskomplex eingerichtet. Hell ausgeleuchtete Räume, in denen telefoniert, geskypt und gemailt wird. Die Vorbereitungen für die zahlreichen, teilweise parallel laufenden Projekte laufen auf Hochtouren. Zeit für einen Kaffee hat Emina dennoch. Von ihrem Büro aus kann sie die gigantischen Kräne am Hafen sehen; die Bora, der kräftige Wind an der Adriaküste lässt die Fensterscheiben in den alten Rahmen leicht erzittern. „Rijeka 2020", sagt die Frau mit den zurückgebundenen blonden Haaren, das sei nicht nur Theater, Musik, Tanz und bildende Kunst auf höchstem Niveau, mit internationalen und lokalen Künstlern. Gerade zu den Themenbereichen „Wasser", „Zukunft der Arbeit" und „Migration" gebe es Konferenzen und Workshops, wolle man lokale Initiativen und Projekte aus dem Ausland zum Ideenaustausch und zur Zusammenarbeit vernetzen. Im Vorfeld habe man die lokale Bevölkerung dazu aufgerufen, sich mit Vorschlägen zu beteiligen – mit einer erstaunlich hohen Resonanz. Ein „Bürgerparlament" (Citizens’ Council) habe Dutzende Projektideen zur Begrünung und künstlerischer Gestaltung öffentlichen Raums gesammelt und auf Machbarkeit hin geprüft. Einiges davon wird jetzt umgesetzt – darunter ein „Pop-up-Park", aber auch Projekte an der Schnittstelle zwischen Kultur und Sozialarbeit. Überhaupt, betont Emina, wolle „Rijeka 2020" so viele unterschiedliche Partner wie möglich einbeziehen, nicht nur die Stadt und ihre unterschiedlichen Viertel „bespielen". Auch die Region ist einbezogen – beispielsweise mit „Lungomare Art", einer Reihe von Kunstinstallationen entlang der Kvarner-Bucht – auf dem Festland, im Wasser oder auf Inseln, auf dem Fischmarkt von Rijeka, dem Hafenkai von Lopar auf der Insel Rab oder auf einem Wanderweg oberhalb von Lovranska Draga. Künstler aus Japan, Großbritannien und Tschechien sind daran unter anderem beteiligt – ab dem Sommer können sich Besucher auf eine Tour zu den ganz unterschiedlich angelegten Installationen begeben.
Wolken sind vom kräftigen Wind herangetrieben worden, es wird langsam schummrig. Und Nikola schlägt vor, den Rest des Tageslichtes zu nutzen, um noch einen Abstecher nach Trsat zu machen, einem Stadtteil von Rijeka, der auf einem Berg oberhalb der Stadt liegt. Mit einem wuchtigen Kastell, einem Wallfahrtsort und dem dazugehörigen Franziskanerkloster, ein Städtchen in der Stadt gewissermaßen, mit dem Zentrum durch 561 Stufen verbunden. Durch einen Torbogen geht es aufs Gelände der Burg, und hier liegt dem Besucher tatsächlich die gesamte Kvarner-Bucht zu Füßen. In der einbrechenden Dunkelheit sind die gigantischen Kräne am Hafengelände nur noch ansatzweise zu erkennen – als dunkle Silhouetten vor dem städtischen Lichtermeer.