Endlich frei, keine Bevormundung mehr durch die EU. Angeblich atmet die Mehrheit der Briten endlich auf. Detlef Seif, der Brexit-Berichterstatter im Bundestag, hat daran seine Zweifel.
Herr Seif, können Sie das Wort Brexit überhaupt noch hören?
Das Wort Brexit steht für eine große politische Herausforderung. Eine Aufgabe, die es zu lösen gilt. Diese Herausforderung nehme ich gerne an. Jetzt kommt das Aber, denn die britische Regierung hatte keine politische Strategie für den Brexit. Wenn ein Verhandlungspartner eine Strategie hat, kann man verhandeln, aber eine solche war auf britischer Seite in den letzten zwei Jahren überhaupt nicht erkennbar. Deshalb waren die Verhandlungen langwierig und nicht vorhersehbar. Aber das Wort Brexit ist für mich wertneutral, und das Land hat natürlich das Recht, aus der EU auszutreten. Das muss man akzeptieren.
Wie sehr hat denn Ihr Respekt vor der ältesten Demokratie der Welt gelitten?
Nicht unerheblich, zum einen wegen des monatelangen Stillstandes, währenddessen man nicht wusste, wie sich die britischen Parlamentarier den Brexit vorstellen. Meiner Einschätzung nach ist die Mehrheit der Parlamentarier nicht vom Brexit überzeugt. Ganz im Gegenteil, sie halten ihn für einen Fehler, folgen aber dem Ergebnis des Referendums. Zum anderen bin ich enttäuscht über den Umgang mit der ganzen Situation, also in welcher Weise die britische Regierung und die Parlamentarier Fakten unberücksichtigt ließen.
Welche Fakten meinen Sie?
Wissen Sie, ich bin seit acht Jahren Berichterstatter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für das Vereinigte Königreich und damit seit 2016 auch für den Brexit zuständig. Ich habe das hautnah mitbekommen, weil ich oft in London war und bin und gute Verbindungen dorthin pflege. Zwischen 2012 und 2014 hat die britische Regierung eine breit angelegte Untersuchung gemacht, aus der hervorging, dass das Vereinigte Königreich mit seiner EU-Mitgliedschaft gar nicht so schlecht fährt. Es ist gut, wie es ist. Hier und da gibt es kleinere Verbesserungsmöglichkeiten, hieß es damals. Vor dem Referendum 2016 hat die Regierung eine weitere Studie veröffentlicht, deren Ergebnis auch eindeutig gegen den Brexit sprach: Kein anderes Verhältnis oder Kooperationsmodell mit der EU bringt annähernd so viele Vorteile für das Vereinigte Königreich wie die aktuelle Mitgliedschaft in der EU. Für mich ist es unverständlich, dass die britische Regierung diese Ergebnisse für sich behalten und nicht in die Debatte eingebracht hat, um damit gegen den Brexit zu werben. Stattdessen ließ man die Brexiteers schalten und walten, wie sie wollten. Sogar Lügen, wie die Behauptung, dass das Vereinigte Königreich wöchentlich 350 Millionen Pfund Sterling nach Brüssel überweise, wurden nicht richtiggestellt.
Vor Ihnen liegt nun die Quadratur des Kreises: Innerhalb von elf Monaten soll ein Freihandelsabkommen ausgehandelt werden.
Schön wär‘s, denn wir haben jetzt nicht die gerne zitierten elf Monate, um eine Regelung auszuhandeln. Zuallererst muss das Verhandlungsmandat erarbeitet und beschlossen werden, also worum es der EU geht, wohin wir wollen. Das dauert bis Ende Februar, dann steigen wir Anfang März in die Verhandlungen ein, müssen aber bis Ende Oktober, spätestens Mitte November fertig sein. Das Ergebnis muss dann noch ratifiziert werden vom britischen Parlament und der EU und auch das dauert seine Zeit.
Also ist das ganze Unterfangen völlig illusorisch?
Es ist die von Ihnen angesprochene Quadratur des Kreises, die nun mal nicht funktioniert. Es wird bis Jahresende 2020 kein umfassendes Freihandelsabkommen der EU mit den Briten geben. Tatsächlich wurde erst durch das Brexit-Verfahren sichtbar, wie eng das Vereinigte Königreich mit der EU verwoben ist, wie stark dieses Geflecht zwischen den bisher 28 EU-Mitgliedstaaten auf allen Ebenen ist. Da geht es um ganz alltägliche Fragen. Dürfen britische Flugzeuge zukünftig EU-Gebiet überfliegen und umgekehrt? Dürfen Haustiere ohne Veterinärbescheinigung hin und her reisen? Dürfen wichtige Arzneimittel eingeführt werden? Jeder Lebensbereich ist betroffen. Es ist unmöglich, das alles in der kurzen Zeit zu regeln. Bis Mitte November ist es, wenn überhaupt, realistisch, ein Basisabkommen auszuhandeln, in dem die wichtigsten Punkte für Handel, Wirtschaft und Reiseverkehr vereinbart werden. Und es müssen Regelungen für den wichtigen Bereich Justiz und Polizei gefunden werden, um organisierte Kriminalität und Terrorismus weiterhin effektiv bekämpfen zu können, eine „Sicherheitspartnerschaft".
Wie lange wird es dauern, bis die Briten nach ihrem Ausscheiden rechtlich wieder da sind, wo sie am Ausstiegstag, dem 31. Januar 2020, waren?
Das ist heute nicht absehbar, weil wir nicht wissen, wie eng sich das Vereinigte Königreich zukünftig an die EU binden will. Wenn das Land eine besonders enge Verbindung wünscht, hätte es sich den Brexit auch sparen können. Bis wir bei Handel, in Sicherheitsfragen und banalen Alltagsthemen wieder halbwegs beieinander sind, wird es so oder so sehr lange dauern. Denn das Abstimmungsprozedere ist hochkompliziert.
Welche Rolle spielt da dann überhaupt noch der Bundestag?
Der Deutsche Bundestag spielt in diesem hochkomplexen Gesamtverfahren eine wichtige Rolle, da wir in Deutschland durch die Bundesregierung Einfluss auf die Brexit-Verhandlungen haben. Ein Umstand, um den uns unsere britischen Parlamentskollegen sehr beneiden. Das bedeutet, dass wir nicht nur den Verhandlungsstand genau kennen, sondern als Parlament auch bei möglichen Schieflagen gegensteuern können. Die Stellungnahme, die der Deutsche Bundestag zum weiteren Verfahren voraussichtlich Mitte Februar abgeben wird, muss die Bundesregierung bei ihrer Positionierung und ihrem Abstimmungsverhalten auf EU-Ebene berücksichtigen.
Dazu kommt dann aber noch ein nicht ganz pflegeleichter Premier Boris Johnson, der auch noch zustimmen muss.
Wenn Boris Johnson nur nicht pflegeleicht wäre, hätte ich kein Problem, aber der Mann ist obendrein nicht prinzipientreu. Er ist ein klassischer „Oxbridger", ein typisch britischer Intellektueller, der gelernt hat, seine tatsächliche Meinung geschickt zu verbergen und das genaue Gegenteil davon zu vertreten, wenn ihm das Vorteile bringt. Ich kenne Johnson noch als Bürgermeister von London. Im Innersten seines politischen Herzens ist er für den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU, aber er konnte nur als Brexiteer Premierminister werden! Das ist der Knackpunkt in der ganzen Angelegenheit. Liegt unser Angebot in Form eines Basisabkommens Ende des Jahres vor und es gefällt der britischen Öffentlichkeit nicht, kann es passieren, dass er das Abkommen nicht akzeptieren wird, obwohl er genau weiß, dass es mit der EU kein anderes Abkommen gibt, weil die EU ihre roten Linien nicht übertreten wird. Daher ist ein ungeregelter Brexit nach Ende der Übergangsphase noch lange nicht vom Tisch.
Welche Druckmittel hat die EU, diesen möglichen ungeregelten Brexit zu verhindern?
Die Frage stellt sich so nicht. Weder Deutschland noch die EU haben in den zurückliegenden Verhandlungen mit Druck gearbeitet. Das bringt in einer parlamentarischen Demokratie auch nichts. Wenn die Wähler eines Landes davon überzeugt sind, nicht länger in der EU sein zu wollen oder einen möglichen Basisvertrag nicht annehmen, werden Bundesregierung und EU-Kommission mit Drohungen nichts erreichen. Ich vertraue auf die gezogenen roten Linien. Wenn die Briten weiter am EU-Binnenmarkt teilnehmen möchten, müssen sie bestimmte Standards akzeptieren, das ist Druck genug. Das weiß auch Johnson und er hat ein Interesse, dass das Vereinigte Königreich auch künftig im EU-Binnenmarkt agieren kann.
Aber US-Präsident Donald Trump hat doch den Briten schon Offerten für ein „einmaliges Freihandelsabkommen" in Aussicht gestellt …
… ja, aber zu den Bedingungen von Donald Trump! Also: „America first", dann kommt eine ganze Weile gar nichts und dann die Briten und ihre Belange. Man darf nicht vergessen, dass die Verhandlungsbedingungen mit den USA nach einem EU-Totalausstieg die denkbar schlechtesten wären, die man sich vorstellen kann. Frei nach dem Motto: Friss oder stirb! Daher denke ich, dass ein Freihandelsabkommen nach den Vorstellungen von Donald Trump keine wirklich gute Alternative für das Vereinigte Königreich wäre.