Forscher haben ein spezielles Hirn-Reinigungs-System entdeckt. Damit wurde das Rätsel um den Sinn des menschlichen Schlafs um eine neue Hypothese erweitert.
Der Schlaf ist und bleibt weiterhin so etwas wie ein Mysterium, das nur ganz langsam entschlüsselt werden kann. Vor allem die Frage, welchem Zweck der Schlaf dient, warum Lebewesen überhaupt eine solche Ruhephase benötigen, gibt der Wissenschaft noch immer große Rätsel auf und hat zu teils kontrovers diskutierten, größtenteils psychologischen Erklärungsansätzen geführt. Aus evolutionärer Sicht scheint der Schlaf vor allem Nachteile mit sich zu bringen, weil schlafende Wesen ziemlich schutzlos nachtaktiven Raubtier-Spezies ausgeliefert sind. Wenn dennoch fast alle Lebewesen auf Schlaf angewiesen sind, spricht dies dafür, dass dem Schlaf eine biologische Schlüsselfunktion zukommt.
Inzwischen wird kaum mehr angezweifelt, dass der Schlaf dem Gehirn hilft, gewisse Sortierarbeiten durchzuführen, sprich Unwesentliches zu löschen und Wichtiges oder neu Erlerntes ins Langzeitgedächtnis zu überführen.
Am spannendsten und derzeit wohl am meisten diskutiert ist die regulierende und reinigende Funktion des Schlafs für Gehirn und Körper. Der Schlaf scheint demnach das Wachstum der Zellen zu beschleunigen, das Immunsystem scheint die Nachtruhe dafür zu nutzen, seine Abwehrkräfte neu zu stärken. Außerdem nehmen Reparaturmechanismen im Schlaf ihre Arbeit auf, um Stoffwechselendprodukte, die sich tagsüber angesammelt haben und die der Organismus nicht mehr braucht, abzubauen oder zu entsorgen. Das konnte für Rückstände im menschlichen Gehirn wie das Protein Beta-Amyloid oder auch für das Tau-Protein nachgewiesen werden, die beide im Verdacht stehen, die Entstehung von Alzheimer, Demenz, Parkinson oder Multipler Sklerose zu begünstigen. Freie Radikale, die zur Zellalterung beitragen oder Herz-Kreislauf- oder Krebserkrankungen fördern können, können ebenso im Schlaf deaktiviert werden.
Wie der Reinigungsprozess im Gehirn konkret abläuft, war lange Zeit völlig unbekannt. Das änderte sich erst durch diverse Arbeiten eines Teams um Prof. Maiken Nedergaard von der University of Rochester im US-Bundesstaat New York ab dem Jahr 2012. Bis dahin war man in der Wissenschaft davon ausgegangen, dass das Gehirn mangels des im übrigen Körper zum Abbau der zellulären Abfallstoffe arbeitenden Lymphsystems, das sich wegen der Blut-Hirn-Schranke nicht über die Hirnregionen ausbreiten kann, selbst den Großteil der anfallenden Proteinreste in irgendeiner Form zersetzen konnte. Diese Annahme wurde grundlegend durch die Entdeckung eines speziellen Hirn-Reinigungssystems infrage gestellt, das von den Forschern rund um Nedergaard als „Glymphatisches System" getauft wurde und das laut den Wissenschaftlern besonders effektiv im schlafenden Zustand arbeitet.
Reparaturmechanismen im Schlaf aktiv
Und sie legten gleich noch einen drauf, indem sie verkündeten, dass genau diese Spülung des Gehirns ein wesentlicher Grund dafür sein könnte, dass Wirbeltiere wie der Mensch, überhaupt schlafen müssen. Eine Störung innerhalb dieses Systems könne durchaus zu neurologischen Erkrankungen wie Alzheimer oder Morbus Parkinson führen. Von Alzheimer-Patienten ist bekannt, dass die Mehrheit von ihnen bereits vor Auftreten erster Symptome an Schlafstörungen gelitten hatte. Der gestörte Schlaf könnte, so Nedergaard, die Entsorgung beispielsweise von Beta-Amyloiden behindert und dadurch zur Pathogenese beigetragen haben.
Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kam ein Forschungsteam um Prof. Jonathan Kipnis von der University of Virginia im Jahr 2015. Bei späteren Untersuchungen mit Mäusen konnte Kipnis mit seinen Kollegen nachweisen, dass bei fortschreitendem Alter das Funktionieren des Glymphatischen Systems nachließ, die Reinigung des Gehirns dadurch beeinträchtigt wurde und die kognitiven Fähigkeiten der Tiere nachließen.
Auch die dänische Neurobiologin Prof. Maiken Nedergaard und ihr Team hatten die Methode der Abfallbeseitigung im Gehirn in Mäuseversuchen überprüft und ihre Ergebnisse im Oktober 2013 im Fachmagazin „Science" veröffentlicht. Sie hatten beobachtet, dass sich während des Schlafes der Tiere bestimmte Zellen im Gehirn zusammenzogen, dadurch teilweise bis zu 60 Prozent geschrumpft waren, wodurch für die Gehirnflüssigkeit ausreichend große Lücken geschaffen wurden, um die nicht mehr brauchbaren Moleküle, die radioaktiv markiert worden waren, wesentlich einfacher wegspülen zu können. Die Abflussrate mancher markierter Reststoffe wie Beta-Amyloid war dabei im Schlaf doppelt so hoch wie im Wachzustand.
Eine entscheidende Rolle für das hirneigene Abwassersystem konnten die Forscher den sogenannten Gliazellen zuordnen, weil diese durch ihre Fähigkeit zum Schrumpfen oder Anschwellen größere oder kleinere Kanäle zwischen den Nervenzellen entstehen lassen konnten. „Schlaf verändert die zelluläre Struktur des Gehirns", so Nedergaard. „Es scheint in einen komplett anderen Zustand überzugehen." Dank des eingefärbten Mäuse-Liquors, beim Menschen auch Gehirnwasser oder Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit genannt, normalerweise eine wasserklare, protein- und zellarme Flüssigkeit, konnten die Wissenschaftler belegen, dass im Schlaf das Gehirn deutlich stärker durchgespült wurde und dass der Zellmüll anschließend aus dem Gehirn über den Blutkreislauf in die Leber gelangt war.
Toxische Eiweiße ausspülen
Wie genau der Mechanismus des Glymphatischen Systems abläuft, haben jüngst Forscher der Boston University in Massachusetts unter Leitung der Neurowissenschaftlerin Laura Lewis untersucht und ihre Ergebnisse im vergangenen November im Magazin „Science" publiziert. Die Forscher hatten hierfür 13 Probanden im Alter von 23 bis 33 Jahren zum Schlafen in lärmende MRT-Geräte positioniert, die Teilnehmer mussten zusätzlich zur Messung der Gehirnströme EEG-Kopfhauben tragen. „Es zeigte sich, dass der Job der Probanden der härteste der gesamten Studie war", so Lewis. „Wir haben all diese hochmoderne Ausstattung und komplizierte Technik. Aber das größte Problem ist, dass die Versuchsteilnehmer nicht einschlafen können, weil sie in einer lauten metallenen Röhre liegen." Doch trotz dieser Unbilden hatten die Probanden doch noch so viel Schlaf gefunden, dass die Forscher die Aktivität der Hirnzellen und des Liquors messen konnten.
Nach dem Einschlafen lief im Gehirn der Probanden ein bislang unbekannter Prozess ab. Blut floss aus dem Kopf heraus, als Ausgleich strömte danach das Gehirnwasser in pulsierenden Wellen in die entsprechenden Regionen ein. Die Forscher erklärten diesen Vorgang damit, dass die Neuronen im Ruhestand weniger Sauerstoff brauchen und deshalb weniger Blut im Kopf benötigt wird. Und dass nach Ausfluss des Blutes der gesunkene Hirndruck durch das Ansaugen von Liquor wieder ausgeglichen worden sei. Das Pulsieren der Gehirnflüssigkeit hat die Wissenschaftler ziemlich überrascht: „Wir wussten, dass elektrische Wellen die Aktivität von Neuronen anzeigen, aber uns war nicht klar, dass es auch Wellen in der Gehirnflüssigkeit gibt", so Lewis. Die Gehirnwäsche dauerte nur wenige Sekunden, innerhalb dieser kurzen Zeitspanne kann die Hirnflüssigkeit offenbar diejenigen toxischen Eiweiße ausspülen, die den kognitiven Fähigkeiten oder der Gedächtnisleistung potenzielle Schäden zufügen können.
Die Wissenschaftler vermuten, dass der normale Alterungsverlauf beim Menschen mit einer schlechteren Selbstreinigungsfähigkeit des Gehirns in Zusammenhang stehen könnte. Auch für neurologische Erkrankungen, die mit Schlafstörungen verbunden sind, könnten die neuesten Erkenntnisse enorm hilfreich sein. „Die Studie ist aufregend, weil sie neuronale Aktivität, Blutfluss und die Reinigung des Gehirns verbindet", so Maiken Nedergaard in einem Kommentar zur aktuellen Untersuchung ihrer Kollegen. Denn bislang sei man davon ausgegangen, dass diese Prozesse nichts miteinander zu tun haben. Um ihren Verdacht zu überprüfen, dass sich im Laufe des Älterwerdens infolge der nachlassenden Neuronenaktivität auch die Hirnspülung zunehmend reduzieren könnte mit entsprechend schädlichen Proteinablagerungen, möchten die US-Forscher als nächstes eine weitere Studie mit älteren Probanden durchführen.