In der Diskussion um mehr Bürgerbeteiligung durch Bürgerräte antwortet in einem Gastbeitrag Landtagspräsident Stephan Toscani auf die Kolumne „Räterepublik“ von FORUM-Politikredakteur Oliver Hilt.
a hat Oliver Hilt in der Rubrik „Nach Gedacht" tief in die Mottenkiste der Geschichte gegriffen. Bürgerräte und die Räte in einer Räterepublik haben rein gar nichts miteinander zu tun. Die Namen dieser alten Räte – wie zum Beispiel Soldatenräte und Arbeiterräte –
machen schon deutlich, dass es sich um Vertreter von Einzelinteressen handelte. Bürgerräte – ich nenne sie lieber Bürgerforen – dagegen repräsentieren möglichst exakt die Sozialstruktur des gesamten Wahlvolkes – das ist die zentrale Basis für ihren Erfolg.
Politik kann nicht ignorieren, dass Sprachlosigkeit und Distanz zwischen Wählern und Gewählten zugenommen haben. Nicht zuletzt, weil Parlamente weniger als früher ein Abbild der Gesellschaft sind: So sind beispielsweise Abgeordnete mit nichtakademischen Hintergrund deutlich unterrepräsentiert. Verschärft wird die Gefahr für unsere liberale Demokratie durch Konfliktlinien in der Gesellschaft. Der Graben zwischen Globalisierungsgewinnern und Globalisierungsverlierern, um auch hier ein Beispiel zu geben. Und wir dürfen nicht vergessen, dass Parteien an Bindekraft verloren haben.
Aus diesen Entwicklungen ergeben sich Fragen: Wie kann es gelingen, Wählerinnen und Wähler intensiver in Entscheidungsprozesse einzubinden? Ihre Kompetenzen zu nutzen und höhere Akzeptanz für demokratische Entscheidungen zu erreichen? Ich meine, aus diesen Gründen muss Demokratie sich weiterentwickeln und eine mögliche derartige Weiterentwicklung sind repräsentative Bürgerforen.
Demokratie muss sich weiterentwickeln
Ich sehe insgesamt drei Vorteile von Bürgerforen:
1. Sie stärken die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Sie binden Bürger themenorientiert und direkt ein.
2. Bürgerforen wirken der Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft entgegen, haben also eine befriedende Wirkung; im Gegensatz zu Volksentscheiden.
3. Der Einfluss von Lobbygruppen wird reduziert.
Wir müssen zu einer „Politik des Gehörtwerdens" – wie der Historiker Prof. Andreas Rödder das nennt – finden. Es geht auch darum, die Gesellschaft zu befrieden. Dazu muss es gelingen, Bürger zurückzugewinnen, die sich von der Politik abgewandt haben, sie in politische Prozesse einzubinden.
Unsere liberale Demokratie hat drei wichtige Säulen: Wählen, Mitmachen, Entscheiden. Die erste Säule gibt den Bürgerinnen und Bürgern alle vier oder fünf Jahre die Chance, Einfluss auf die Politik zu nehmen. Mitmachen sollte aber auch zwischen den Wahlen möglich werden. Es gilt also, neue Formen der Partizipation zu wagen. Ich bekenne mich mit Nachdruck zur repräsentativen Demokratie, denn sie ist elementar für unsere Staats- und Gesellschaftsordnung. Das schließt für mich aber zusätzliche Formen der Bürgerbeteiligung nicht aus. Bürgerforen mit repräsentativ ausgelosten „Zufallsbürgern" geben uns die Chance, Echokammern aufzubrechen und ganz unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, die sich sonst nicht begegnen, an einen Tisch zu bringen. Der belgische Autor David van Reybrouck hat dazu einen zentralen Gedanken entwickelt: „Wenn einfache Bürger die Befugnis, Zeit und Information bekommen, schwierige Fragen anzugehen, wachsen sie über Gegensätzlichkeiten hinaus und liefern sinnvolle Antworten."
Für mich ist die Einführung von Bürgerforen nicht der Weg „zu einer Selbstentmachtung der Parlamente". Entscheiden müssen weiterhin die Parlamente. Repräsentative Bürgerforen können aber unsere politische Debatte bereichern und befrieden, indem sie Polarisierung und gesellschaftliche Gräben überwinden – mindestens abbauen. Das zeigt das Beispiel Irland. Bürgerforen unterbreiten den Parlamenten Entscheidungshilfen und unterstützen sie so. Es ist nicht geplant, Landtage oder den Bundestag zu ersetzen. Wagen wir es doch auch einmal. Seien wir offen für politische und gesellschaftliche Innovationen, nehmen wir unsere Bürger ernst und haben wir Vertrauen in ihre Fähigkeiten.