Der politische Paukenschlag aus Thüringen war absehbar. Ganz offensichtlich haben die CDU-Landesverbände im Osten ein Eigenleben entwickelt, das mit den westdeutschen Realitäten nur noch peripher zu tun hat.
Die schwarze Oberklasselimousine rollt langsam vor den Haupteingang des futuristischen Glasbaus am Berliner Lützowplatz. Dort steht schon lauernd die Presse-Meute, bewaffnet mit Kameras und Mikrofonen. Der Wagen hält direkt davor, das Blitzlichtgewitter setzt an.
Doch Mike im Fond des Wagens gibt seinem Fahrer die Anweisung: Weiterfahren. Vorn um die Ecke, so ist ihm seine Ankunft zu plump. Mike kämpft ums politische Überleben, und da muss sein Auftritt ein großer sein. Die Reporter rennen hinterher, um die Ecke hält der Wagen an, Polizisten schützen ihn vor dem Ansturm. Der Hauptakteur entsteigt dem Wagen und geht den Weg zum Haupteingang zu Fuß zurück. So ist es aus Mikes Sicht viel dramatischer, denn nur er weiß, wie es wirklich war in Erfurt.
Das zumindest glaubt und verkörpert Mike Mohring am Freitagmorgen vor der Präsidiumssitzung der CDU nach den ersten Chaos-Tagen. Folglich hat es der CDU-Fraktionschef aus dem thüringischen Landtag auch nicht eilig, in die Parteizentrale hineinzukommen. Er steuert als erstes auf das Kamerateam des nationalen Ereignisfernsehens zu und freut sich über jede Frage. Mohring weiß nur zu genau, dass in diesem Augenblick direkt über ihm im großen Sitzungssaal vor dem Flachbildschirm zahlreiche hochrangige Parteifreunde sitzen und seinen Worten lauschen.
Warnung vor einer Zuspitzung
Was sollen CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer und ihre Präsidiumsmitglieder auch machen, denn ohne Mohring macht die Sitzung keinen Sinn. Und der genießt dieses Gefühl offensichtlich, bei zwei Grad und grauem Himmel vor dem Haus: Jetzt müssen sie ihm endlich zuhören, sich seine Wahrheit anhören, er macht jetzt die Ansagen, in diesem, seinem Augenblick. „Ich habe bereits vor Wochen vor einer solchen Zuspitzung der Situation gewarnt, doch das wollte ja hier keiner hören“, lässt der CDU-Fraktionschef aus Erfurt verlauten. Das geht so gut 20 Minuten, bis dem Reporter tatsächlich keine Fragen mehr einfallen. Alle frieren, außer Mohring, der zieht in seinem neuen, blau-metallic schimmernden Anzug weiter zur nächsten großen Meute mit Kameras und Mikrofonen direkt vor der Tür. Hier kann man ihn oben, vom Sitzungsaal, auch direkt sehen – oder bei einem der beiden deutschen Nachrichtensender auf dem Bildschirm.
CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer lässt diese unglaubliche Respektlosigkeit kommentarlos über sich ergehen. Ist eh egal, das politische Kind ist nicht nur in den Brunnen gefallen, sondern längst ertrunken. In der Runde der Wartenden im Konrad-Adenauer-Haus wird die Frage diskutiert, woher Mohring diese Chuzpe nimmt. Erst die Wahl-Nummer in Erfurt entgegen allen Absprachen abziehen, dann einen Tag später die Parteivorsitzende mit ihrem Neuwahlanliegen beinhart abblitzen zu lassen und nun hier noch diesen Zirkus zu veranstalten? Anders formuliert, wer gibt ihm die politische Rückendeckung in der CDU, für dieses einmalige Spektakel.
Es gibt keine Rückendeckung, ist die wohl einzig richtige Antwort. Mohring hat, ohne lange zu überlegen, einfach mal losgelegt und ist, ohne es auch nur ansatzweise zu ahnen, in einem wahren Machtvakuum seiner Partei gelandet: Die einzigen, die ihn überhaupt noch stoppen können, sind seine Fraktionsmitglieder in Erfurt. Auch sie haben in Erfurt via TV Mohrings „klärenden Auftritt“ entsetzt verfolgt und beschließen Neuwahlen – zumindest für ihre Fraktionsspitze – und wollen sich so ihres irrlichternden Chefs entledigen. Was die CDU-Chefin nicht ansatzweise geschafft hat, kriegen die „politischen Fußtruppen“ in Thüringen dann doch noch hin. Eines muss man Mike Mohring und seinen Parteifreuden allerdings zugestehen, sie haben im Vorfeld versucht, den AFDP-Wahnsinn abzuwenden.
Neue politische Farbenlehre im Osten
Mit dem Anliegen, den Linken Bodo Ramelow irgendwie zu tolerieren, sind sie aber in der Berliner Zentrale offenkundig abgeblitzt. Die Idee, mit der sich nicht wenige in der CDU-Landtagsfraktion zu Thüringen hätten anfreunden können, war eine „projektorientierte Zusammenarbeit“, also „eine inhaltlich abhängige Duldung einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung“ durch die CDU. Das bekam sogar den Segen von Altbundespräsident Joachim Gauck, der ein entsprechendes Gespräch auf höchster Ebene in Erfurt leitete. Das war aber mit der westdeutsch dominierten Bundespartei nicht zu machen. Keine Zusammenarbeit mit den Rändern, nicht mit der AfD, aber eben auch nicht mit der Linkspartei.
Von einer ähnlichen ideologischen Totalblockade kann auch der ehemalige Brandenburger CDU-Spitzenkandidat Ingo Senftleben berichten. Der hatte im Sommer letzten Jahres etwas unglücklich im brandenburgischen Landtagswahlkampf über eine kooperierende Regierungszusammenarbeit mit der Linken nachgedacht. Auch damals wurde im CDU-Bundesvorstand nicht diskutiert, sondern gleich auf den Parteibeschluss vom Dezember 2018 verwiesen. Keine Kooperation oder Zusammenarbeit mit der Linken und der AfD.
Auch im ostdeutschen Nachbarland Sachsen-Anhalt gibt es Überlegungen über die bisher üblichen Konstellationen im Parteispektrum hinaus, allerdings in die andere Richtung. In Magdeburg wurde über eine Tolerierung durch die AfD diskutiert. Das hat sich nach dem denkwürdigen Mittwoch von Erfurt nun aber auch erledigt.
Solche Überlegungen stellen die Parteistrategen auch dort nicht ganz freiwillig an. In Sachsen-Anhalt könnten nach der Landtagswahl Mitte kommenden Jahres politische Verhältnisse wie derzeit in Thüringen herrschen. Selbst klassische Dreier-Bündnisse finden keine Mehrheit im parlamentarischen Rund.
Die Frage dürfte nach derzeitigen Umfragen auch die CDU in Mecklenburger beschäftigen, wo im September 2021 gewählt wird. Der Landesverband der Kanzlerin hat gerade seinen Vorsitzenden Vincent Kokert verloren. Der 41-Jährige will sich jetzt lieber um seine Familie kümmern. Bei der CDU an der Ostseeküste könnte nun der 27-jährige Phillip Amthor den Landesverband übernehmen. Auf die gerade in Ostdeutschland dringende Frage, was politisch zu tun ist, wenn die klassischen Dreier-Koalitionen keine Mehrheit mehr finden, wird aber auch er keine befriedigende Antwort haben.