Bis heute haben die Simple Minds 60 Millionen Platten verkauft. Mit einem Live-Album, einer Retrospektive und einer umfangreichen Tour feiert die Band jetzt ihr 40-jähriges Bestehen. Sänger Jim Kerr (60) spricht im Interview über die späten 70er-Jahre in New York, seine Philosophie als Live-Musiker und sein Punk-Ethos.
Mr. Kerr, die Simple Minds haben kürzlich „Live in the City of Angels" veröffentlicht, ein Album, das Sie während Ihrer Jubiläumstour aufgenommen haben. Warum machen Sie in der Ära von Youtube überhaupt noch Live-Platten?
Diese Frage habe ich mir auch gestellt, als wir mit einer neuen Live-Platte liebäugelten. Konzertmitschnitte hatten einen ganz anderen Stellenwert, als wir jung waren. Ich würde nicht sagen, dass sie heutzutage noch dieselbe Wertigkeit haben, weil man im Netz so viel Live-Material findet. Die Simple Minds sind jedoch ein bisschen oldschool, wir hängen einfach an den Sachen, die wir schon immer getan haben. Ganz unabhängig davon, ob sie gerade in Mode sind. Unsere Hardcore-Fans wissen, dass wir uns stets weiterentwickeln. Keine unserer Tourneen gleicht der anderen, was auch daran liegt, dass sich die Bandbesetzung oft ändert. Die Konzertreise, auf der wir die aktuelle Platte mitgeschnitten haben, war unsere erste Nordamerika-Tournee seit zwölf Jahren – und unsere bislang größte. Wir waren überrascht, wie gut sie gelaufen ist. Die Atmosphäre bei den Auftritten war magisch. Wir fanden, dass man das dokumentieren muss. Solch ein Album wird bestimmt kein Nummer-eins-Hit, aber es zeigt, wo sich die Band gerade befindet.
Welche Ansprüche haben Sie an ein Live-Album?
Es soll die Stimmung bei einem bestimmten Auftritt oder einer bestimmten Tour einfangen. Nicht jeder Fan hat die Möglichkeit, dabei zu sein. Ein Live-Album soll die Reise dokumentieren, auf der sich eine Band zu einer bestimmten Zeit befindet. Als Band spielt man immer Songs aus allen Phasen einer Karriere, bei manchen hält man am klassischen Arrangement fest, bei anderen setzt man auf Neufassungen. Die einen Titel spielt man ruhig, die anderen kommen bombastisch daher. So sind die Simple Minds.
Hören Sie sich nach einer Tour noch einmal sämtliche Auftritte an?
Nein, wir wussten von Anfang an, dass wir nur dieses eine Konzert in Los Angeles mitschneiden wollen. Wir kannten das Orpheum Theatre bereits von früheren Auftritten und wussten, dass es die technischen Voraussetzungen besitzt, um dort eine Show aufzunehmen. Unser alter Produzent Bob Clearmountain aus L.A. hat uns dabei geholfen. Wir haben auch die Proben und den Soundcheck mitgeschnitten, damit man sehen kann, wie wir auf Tour arbeiten.
Mein erstes Konzert von den Simple Minds habe ich 1982 in Hannover gesehen. Erinnern Sie sich noch an diesen Auftritt?
Sie waren damals in der Rotation mit dabei? Jesus! Ich bin froh, dass ich mich noch an den Namen dieses Clubs erinnern kann. Es war für einen Performer ein ziemlich schrecklicher Auftrittsort, nicht wahr? Ein unheimlich hoher Raum, bei dem das Publikum links und rechts an den Seiten stand. Man konnte die Leute kaum erreichen. Aber es war für uns schon aufregend, in den frühen 80er-Jahren in Deutschland zu spielen. Hannover ist eine tolle Musikstadt.
„40: The Best Of – 1979-2019" heißt eine neue Retrospektive, die Stücke aus Ihrer gesamten Karriere enthält. Darunter das brandneue Cover eines obskuren Songs von King Creosote, „For One Night Only". Wie kamen Sie auf diese Idee?
Zuerst einmal schätzen wir diesen Künstler sehr. Er ist ein Landsmann von uns. King Creosote hat eigentlich einen ganz anderen Stil als wir, aber sein Song „For One Night Only" fühlt sich an, als sei er von uns. Wir performen die Nummer oft bei unseren Soundchecks und spielen damit herum. Wir wussten, dass wir sie eines Tages aufnehmen werden. Jetzt haben wir es getan. Uns war wichtig, dass auf der neuen Werkschau zumindest ein Song drauf ist, den noch niemand hat.
King Creosote alias Kenny Anderson hat bis heute 40 Alben aufgenommen, aber außerhalb Schottlands ist er nahezu unbekannt.
King Creosote verblüfft mich immer wieder. Er ist kein Mainstream-Typ, er spielt in Bars und Cafés, wo ich ihn auch schon live erlebt habe. Speziell die Kritiker lieben ihn, weshalb er schon viele Preise gewonnen hat. Er ist ein Familienmensch, der seine Platten zu Hause aufnimmt.
Mögen Sie Indierock?
Ich mag einfach tolle Musik. Ganz egal, wie man das nennt, Hauptsache, es berührt mich. Das kann Indierock, Elektronik, afrikanische, kubanische oder klassische Musik sein.
Wie würden Sie das musikalische Profil der Simple Minds umschreiben?
Die Leute glauben zu wissen, was sie von uns erwarten können. Ich finde aber, dass es den klassischen Simple-Minds-Sound gar nicht gibt. Was ist denn damit genau gemeint? Die frühen Jahre? Die Post-Punk-Phase? Elektronik? Dance? Artrock? Pop? Stadionrock? Politsongs? Das Keltische von „Belfast Child"? Die Simple Minds sind vieles – und sie haben ein bestimmtes Profil. Für mich ist das Bemerkenswerte an uns, dass wir zwar viele verschiedene Stile ausprobiert, dabei aber nie unsere Identität als Band verloren haben.
Die ältesten Songs auf dem Album „40: The Best Of 1979 to 2019" sind „Life in A Day" und „Chelsea Girl". War letzterer inspiriert durch Nico und The Velvet Underground?
Nein, die Inspiration war ein Gemälde an einer Wand in London. Es zeigte das Model Jean Shrimpton. Sie war in den Sixties das original Chelsea Girl. Nichtsdestotrotz war und bin ich ein großer Fan von The Velvet Underground. Erst kürzlich habe ich einen Artikel über deren Sängerin Nico und ihre Beziehung zu Jim Morrison gelesen. Ich mag ihr Soloalbum „The Marble Index" und die Sachen, die sie mit John Cale gemacht hat. Solche eigensinnigen Charaktere faszinieren mich.
Sind Sie Andy Warhol jemals begegnet?
Nein, ich habe ihn nie getroffen, aber wir hatten das Glück, dass wir Ende der 70er-Jahre nach New York eingeladen wurden. Wenn man dort in bestimmte Bars ging, konnte man Leute wie Iggy Pop, Jayne County, den Maler Basquiat oder die Musiker von den Talking Heads treffen. Sie sind damals in kleinen Clubs aufgetreten. Die späten 70er-Jahre in New York waren eine sehr aufregende Zeit, speziell für einen Jungen aus Glasgow wie mich.
Waren Sie dabei, als The Clash 1977 in Edinburgh gespielt hat? Es heißt, diese Show markiere die Geburt des Indierock.
Nein, auf diesem Gig war ich nicht. Ich stand eher auf die Stranglers und bin durch die Lande getrampt, um ihre Shows zu sehen. Ich war damals auch auf Gigs von The Damned und den Sex Pistols. Das fand ich superspannend. Ein Glück, dass der Punk auch nach Schottland gekommen ist. Es fühlte sich an wie eine Befreiung. Man konnte etwas von dieser Energie in sich aufnehmen und daraus etwas Eigenes machen. So ist es schließlich auch uns ergangen.
Bedeutet Punk Ihnen heute noch etwas?
Durchaus. Für mich ging es beim Punk weniger um die Mode. Punk zeigte mir, dass man alles selbst machen konnte. Er gab mir das Gefühl, dass auch ich eine Band gründen, einen Film drehen oder ein Magazin ins Leben rufen konnte. Gemäß der Devise: Denk nicht lange drüber nach, tu es einfach! Vor Punk haben alle gedacht, dass diese Mauern undurchdringlich seien, so lange man nicht gut in der Schule oder geübt im Musizieren war. Punk war hausgemacht. Ich hatte nie eine Gitarrenstunde. Niemand hat mir gezeigt, wie man einen Song schreibt. Alles, was ich kann, habe ich mir selbst beigebracht. Diese Selfmade-Einstellung habe ich heute noch. Ich finde, man muss sich am Ende selbst erfinden. Das hat etwas mit meiner Punk-Attitüde zu tun. Insofern bedeutet mir das Punk-Ethos noch immer etwas. Als Sound und als Mode war Punk jedoch nur von kurzer Dauer.
Im Jahr 1977 gründeten Sie mit Charlie Burchill, Brian McGee und John Milarky die Punkband Johnny and The Self Abusers.
Diese Gruppe existierte ungefähr vier Monate. Der Musikstil ließ sich bereits an unserem Namen ablesen. Johnny and The Self Abusers waren eigentlich ein Witz, aber auch ein Türöffner. Wenn wir damals keinen Punk gemacht hätten, würden wir heute vielleicht immer noch in demselben Pub sitzen und uns einreden, dass wir eines Tages den Absprung schaffen werden. Es war die Energie des Punks, die uns den Hintern hat hochkriegen lassen. Wir waren ziemlich scheiße, aber es hat unheimlich viel Spaß gemacht.
Wer hat Ihnen dabei geholfen, Ihren eigenen Stil zu finden?
Wir hatten im Lauf der Zeit viele Helfer. Sogar heute noch. Toningenieure, Produzenten, Manager. Aber letztlich war es unsere Einbildungskraft, die uns dahin gebracht hat, wo wir heute sind. Etwas Talent sollte auch vorhanden sein, aber viel wichtiger sind meiner Meinung nach Fantasie und Energie. Sie waren bei uns im Übermaß vorhanden. In Glasgow gab es damals niemanden, der uns etwas beibringen konnte. Es war eine tote Stadt. Wir haben einfach unsere eigene Welt erfunden.
Welche Bedeutung hat Glasgow als Musikstadt?
Im Lauf der Zeit ist in Glasgow unheimlich viel tolle Musik entstanden. Es gibt aber bis heute keinen Glasgow-Sound. Liverpool und Manchester haben dagegen einen Sound entwickelt. Glasgow hat aber eine ganz eigene Energie. Die Wurzeln dieser Stadt sind irisch und schottisch. Das ist eine ziemlich kräftige Mischung.
Die Simple Minds klingen auf „Live In The City of Angels" kraftvoll und frisch wie am Anfang Ihrer Karriere. Hatten Sie kürzlich eine Lebend-zell-Therapie?
(lacht) Wir haben immer Spaß an unserer Arbeit gehabt. Natürlich gibt es auch Projekte, die man lieber macht als andere. Alles in allem haben wir uns in dieser Band immer sehr glücklich gefühlt. Unser Anspruch ist, jedes einzelne Konzert so toll wie möglich zu spielen. Egal, wo wir uns gerade befinden. Wenn wir eine Bühne betreten, geht es uns nicht darum, das gerade aktuelle Album vorzustellen. Nein, wir wollen den Menschen zeigen, was wir mit unserem Leben gemacht haben. Das ist natürlich ein großes Statement, und man muss dafür sorgen, dass man dem auch wirklich gerecht wird. Nicht nur in Los Angeles oder New York, Berlin oder Hamburg – sondern überall, wo wir auf die Bühne gehen, haben wir den Anspruch, noch ein bisschen besser zu sein als beim letzten Mal. Manchmal gelingt uns das nicht, wir sind ja auch nur Menschen, aber man sollte es sich zumindest wünschen. Ich hoffe, dass man das unserer Musik anhört.
Arbeiten Sie bereits am nächsten Studioalbum?
Ja, wir sind gerade dabei, neue Songs aufzunehmen. Momentan arbeiten wir keine vier Wochen am Stück. Wir nehmen diese Woche vielleicht vier Songs auf und in zwei Monaten eventuell noch einmal zwei. Das machen wir so lange, bis sich 16 oder 18 Titel angesammelt haben, die gut zusammenpassen. Es geht immer weiter.